Favoritencheck in Aserbaidschan - man könnte seine Zeit auch sinnvoller verbringen, denkt man an die Rennen der letzten Jahre. Die Formel 1 in den Straßenschluchten Bakus verspricht Spektakel, Chaos und vor allem unvorhersehbare Rennen. Auch heute ist für einen modernen Klassiker angerichtet: Mit Charles Leclerc startet der eigentlich große Favorit nur von Platz neun.

Das erste Chaos gab es nämlich schon im Qualifying: Leclerc flog ab, Sebastian Vettel konnte die eigentliche Pace des Ferrari nicht zeigen. Mercedes holte binnen Stunden fast zwei Sekunden auf. Und diesmal lag es nicht nur am Mercedes-Bluff im Training: Der Unfall, die Temperaturen, Windschatten: Ferrari brachte es nicht zusammen, als es draufankam.

Mit Valtteri Bottas startet ein anerkannter Baku-Spezialist von der Pole. Der Finne hätte schon im vergangenen Jahr siegen müssen. Lewis Hamilton dahinter ist ohnehin immer Favorit, egal wie das Rennwochenende bis dato lief. Ist Mercedes aber nach dem Verlauf auch tatsächlich Favorit für das Formel-1-Rennen heute?

Formel-1-Gesetze in Baku nicht gültig

Ein Grundgesetz der modernen Formel 1 gilt in Aserbaidschan nicht: Trackposition ist auf dem Baku Street Circuit nicht alles. Die letzten zwei Kilometer der 6,003 Kilometer langen Strecke geht es vollgas. Schon im Qualifying war der Windschatten entscheidend. Im Optimalfall bringt der sechs Zehntelsekunden. 2019 ist der Effekt deutlich größer, weil die Autos durch die neuen Regeln mehr Luftwiderstand erzeugen.

Im Rennen hilft DRS zusätzlich, weil nur der Hintermann den Flügel klappen darf. "Die Rennpace wird entscheidend sein, da das Überholen auf diesem Kurs relativ einfach ist", meint Polesetter Valtteri Bottas.

Auf kaum einer anderen Strecke ist die Pole unwichtiger als in Baku. "Bei manchen Rennen fühlt sich Pole wie die halbe Miete an, aber hier sind wir weit von 50 Prozent weg", meint Bottas. "Hier kann alles passieren. Einmal lag ich hier eine Runde zurück und wurde Zweiter. Einmal hab ich drei Runden vor dem Ende geführt und bin nicht ins Ziel gekommen..."

Ferrari in Baku wieder chancenlos gegen Mercedes?

Das angesprochene Chaos lässt sich verständlicherweise nicht prognostizieren, doch ein paar interessante und relevante Fakten gibt es für den Aserbaidschan GP schon. Beispielsweise das Qualifying-Ergebnis: Auch wenn man Überholen kann, man brauch die Pace. Vettel fehlten drei Zehntel auf die Bestzeit. Wie soll es dann im Rennen klappen? Wird Baku einfach das nächste China?

In China war Ferrari letztlich chancenlos, Foto: Mercedes-Benz
In China war Ferrari letztlich chancenlos, Foto: Mercedes-Benz

"Ich sehe das Ergebnis und die Zeiten heute nicht als Referenz. Ich denke, wir haben ein gutes Auto und wir können hart racen", sagt Sebastian Vettel selbst. Die Startaufstellung war einmal mehr das Ergebnis vieler Faktoren, die gegen Ferrari liefen und Mercedes wieder einmal perfekt ausnutze. Mercedes hatte schon in den ersten drei Rennen nicht immer das schnellste Auto, machte aber immer das Maximum aus den Gegebenheiten. So auch bislang in Baku.

Vettel brachte vor allem der Temperatursturz aus dem Tritt. "Im Rennen sind die Bedingungen für alle immer gleich, auch wenn sie sich während des Rennens verändern. Ich glaube bei konstanteren Bedingungen sollten wir ganz gut unterwegs sein", glaubt der Deutsche.

Mercedes im Longrun stärker als im Qualifying-Trimm

Sicherlich wurde Ferrari erneut unter Wert geschlagen, bei der Pace auf eine Runde hätte die Scuderia eigentlich nicht zu schlagen sein sollen. Aber wie sieht es mit der Rennpace aus? "Unsere Long Run Pace hat bislang gut ausgesehen", freut sich Hamilton. Mercedes war zwar in den Trainingssitzungen auf eine Runde unter ferner liefen, war aber bei den Longruns überraschend stark.

Weil die Rot-Phasen im 2. Freien Training die Rennsimulationen gewaltig durcheinanderbrachten, waren die Longrun-Zeiten etwas undurchsichtig. Doch wie man es auch drehte, Mercedes war zumindest auf Ferrari-Niveau.

Formel 1, Aserbaidschan GP 2019, Longruns auf Soft

FahrerStint-LängeReifen-AlterDurchschntl. Zeit
Verstappen4131:47,605
Bottas8191:47,926
Hamilton2131:48,375
Leclerc5171:48,712

Interessant: Auch wenn Ferrari auf eine Runde auf den Geraden stark war, bei den Longruns waren die Geschwindigkeitswerte auf der Zielgeraden nicht beeindruckend. Auf der ewig langen Geraden ist das Energiemanagement im Renntrimm besonders interessant. Die beiden Ferraris hatten in den Longruns am Ende der Geraden offenbar nicht mehr so viel Saft wie die Silberpfeile.

Formel 1, Aserbaidschan GP 2019, Longruns auf Medium

FahrerStint-LängeReifen-AlterDurchschntl. Zeit
Bottas1121:47,543
Hamilton7171:47,768
Leclerc1111:47,779
Vettel10191:48,158
Gasly6151:48,494

Bei einzelnen Attacken mag das nicht entscheidend sein, weil kurzzeitig Power-Reserven genutzt werden können, über den Rennverlauf hinweg kann das jedoch durchaus von Bedeutung sein. Ferrari mag im Renntrimm insgesamt nicht unbedingt langsamer gewesen sein, aber um die beiden Mercedes zu überholen, braucht es mehr, als 'nicht langsamer sein'.

Der Reifenverschleiß wird höchstwahrscheinlich keine große Rolle spielen. Alle sollten - ohne große Safety-Car-Dramen - locker mit einem Stopp durchkommen. Entscheidender ist da schon, wer es schafft, die Reifen über den ganzen Stint auf Temperatur zu halten. Wer einmal die Temperatur in den Vorderreifen verliert, tut sich schwer, wieder zurückzukommen. Safety-Car-Phasen oder etwas zu viel Pace-Management können hier das Zünglein an der Waage sein.

Verstappen in Aserbaidschan wieder nur Geheimtipp?

In Reihe zwei startet mit Max Verstappen der ewige Geheimtipp: Wie schon an den ersten drei Rennwochenenden der Saison 2019 war Red Bull das Dark Horse. Wirklich gefährlich wurden die Bullen aber nie. Trotzdem kam Verstappen in der Qualifikation überraschend nah. Als einziger Top-Pilot hatte er nur einen frischen Reifensatz im Q3, musste deshalb komplett auf Windschatten verzichten. In Anbetracht dessen war die Performance besser als erwartet.

Charles Leclerc war der schnellste Mann in den Straßenschluchten Bakus, Foto: LAT Images
Charles Leclerc war der schnellste Mann in den Straßenschluchten Bakus, Foto: LAT Images

Warum der ganz große Knoten aber ausgerechnet in Baku platzen sollte? Auf ein wenig Chaos muss Verstappen auf jeden Fall hoffen. Oder auf Probleme bei der Konkurrenz - Thema Reifentemperatur.

Der schnellste Mann des Wochenendes startet aber von Platz neun. Nach seinem Unfall hatte Charles Leclerc Glück im Unglück und schaffte immerhin den Einzug ins Q3. Ganz sollte man Leclerc noch nicht abschreiben: Er schaffte es als einziger - wenn auch mit großem Knall - auf den Medium-Reifen ins Qualifying-Finale.

Das erlaubt ihm im Rennen eine Offset-Strategie, also eine Alternative. Gepaart mit der Pace, die er das ganze Wochenende zeigte und etwas Rennglück im üblichen Baku-Chaos kann der Monegasse deshalb noch ein Wörtchen um den Sieg mitreden.