Interlagos, 2. November 2008. Der Große Preis von Brasilien ging als eines der epischsten Finals in die Geschichtsbücher der Formel 1 ein. Letzte Runde, letzte Kurve, Krimi: Lewis Hamilton schnappte in letzter Sekunde dem Lokalmatador Felipe Massa die sichergeglaubte Weltmeisterschaft vor der Nase weg - und stürzte damit eine Nation in tiefe Trauer. Mittendrin im Regen-Chaos: Timo Glock. 'Is that Timo Glock?', brüllte der englische TV-Kommentator, als Hamilton den damaligen Toyota-Piloten überholte und damit den entscheidenden fünften Platz im Rennen belegte. Für die Brasilianer war der Schuldige an der Tragödie schnell gefunden. Glock und seine Toyota-Crew wurden von Fans angefeindet, beleidigt, verfolgt. Der heutige BMW-DTM-Pilot wurde sogar von einer Polizeieskorte zum Flughafen begleitet aus Sorge um seine Sicherheit. Genau zehn Jahre später spricht Glock im Interview mit Motorsport-Magazin.com über das damalige Drama und Nachwirkungen bis zum heutigen Tag.

MSM: Timo, vor genau zehn Jahren hast du bei der Entscheidung über die WM-Vergabe in der Formel 1 im Mittelpunkt gestanden. Kannst du heute darüber lachen, was 2008 im Regen von Sao Paulo und vor allem anschließend passiert ist?
Timo Glock: Lachen kann ich heute schon darüber. Es war in den Tagen danach aber erschreckend, zu sehen, was passiert und wie Leute das aufgenommen haben, ohne die wirklichen Hintergründe zu kennen. Mir wurde gar keine Chance gegeben und es war den Leuten auch egal, ob ich auf den falschen Reifen unterwegs war. Da wurde wild auf mich eingehackt, ohne zu respektieren, dass es vielleicht einen Grund dafür gab.

Es ist schon eine Tradition: Jährlich wirst du in deinen Netzwerken von Fans auf den Vorfall angesprochen. Nervt dich das?
Kommt drauf an, ob die Kommentare positiv oder negativ sind. Es gibt ja viele User, die mich verteidigen, weil sie jetzt die Onboard-Aufnahmen gesehen haben oder so. Auf der anderen Seite gibt es auch immer noch Leute, die mich heute dafür hassen. Aber gut, denen kann ich leider auch nicht helfen. Das sind eben Fans von Felipe Massa und das kann ich auch verstehen. Ich habe aber nichts falsch gemacht, sondern damals versucht, aus dieser Situation für mein Team das Beste herauszuholen.

Welche Fan-Reaktionen waren am heftigsten?
Es gab Facebook-Gruppen, in denen man mich hängen wollte. Ich bekam Drohbriefe nach Hause und all so einen Mist. Da waren schon heftige Sachen dabei. Speziell auch für meine Eltern, die so etwas natürlich auch überhaupt nicht kannten. Das war sehr unangenehm.

Wie hast du darauf reagiert?
Ich hab's zur Kenntnis genommen, mich aber nicht näher damit beschäftigt. Ändern hätte ich das ja eh nicht können.

Würdest du heutzutage anders damit umgehen?
Du bist der Sache ausgeliefert. Was willst du da machen? Vielleicht hätte ich versucht, die Situation früher zu erklären und die Medien genutzt, um die Sache aufzuklären. Ich hatte mich damals ja komplett zurückgezogen und bin gar nicht groß drauf eingegangen. Leider standen die Onboard-Aufnahmen bis vor zwei Jahren nicht zur Verfügung.

Hast du die letzten Runden von Sao Paulo präsenter im Kopf als andere Rennen in deiner Karriere?
Ich kann mich heute noch gut daran erinnern, wie ich zwei Runden vor Schluss sagte: Ich muss reinkommen, das endet sonst im Chaos. Da hat mir das Team gesagt, dass das nicht mehr ginge, weil die Boxengasse blockiert ist. Wir sind also draußen geblieben und ich war der Nummer ausgeliefert. Bei Trulli (Glocks Toyota-Teamkollege, d.Red.) war es ja genauso. Er fuhr auf den gleichen Reifen und exakt die gleichen Rundenzeiten wie ich. Und am Ende fuhr er als Achter über die Ziellinie und hatte kein Problem - und ich war der Idiot.

Durch das Rennen hast du dich in den Geschichtsbüchern der Formel 1 verewigt. Bedeutet dir das etwas?
Eigentlich ist es mir egal. Aber es ist schon krass, wenn dein Name verankert ist mit Lewis Hamiltons WM-Titel 2008 und dass du bei der Entscheidung eine große Rolle gespielt hast. Kaufen kann ich mir aber auch nix dafür... Wenn ich in einigen Jahren noch mal darüber nachdenke, finde ich das vielleicht sogar ganz cool. Aber wenn ich entscheiden könnte, wäre ich damals lieber nicht in der Situation gewesen.

Vor einigen Jahren sagte Felipe Massa, dass ihm ein gewisser Deutscher damals geschadet habe. Hast du dich je mit ihm über die Situation unterhalten?
Nein, nie. Was soll ich ihm auch sagen? Wenn er das so sieht und die Situation nicht einschätzen kann, ist das sein Problem. Eigentlich denke ich aber, dass er das einschätzen kann.

Hat Massa irgendwann einmal das Gespräch mit dir gesucht?
Nein.

Und mit Lewis Hamilton hast du auch nie über diese letzten Runden gesprochen?
Nein, auch nicht.

Damals gab es Gerüchte, dass ihr euch gegen Massa verschworen hättet, weil ihr euch aus gemeinsamen Zeiten in der GP2-Serie kanntet...
Wer hätte uns denn erzählen können, dass es zwei Runden vor Schluss anfängt zu regnen? So eine Story kann man nicht planen, das ist unmöglich.

Angeblich hat sich der damalige Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug bei dir bedankt. Was steckt dahinter?
Das war kurz nach dem Rennen. Ich war schon froh, dass ich heil zum Flughafen gekommen war. Und wer saß im Flieger genau neben mir? Norbert Haug! Der war natürlich in Feierlaune, Mercedes hat nach dem Rennen ja ordentlich Gas gegeben. Ich habe in dem Moment nur gehofft, dass mich da von der Presse niemand sieht... Sonst wäre ja bestimmt noch mehr Öl ins Feuer gegossen worden.

Sportler und Prominente werden in ihrer Karriere häufig auf eine bestimmte Situation reduziert. Wie findest du das?
Das ist verständlich, weil so ein Ereignis einfach bei vielen hängen bleibt. Wenn ich heute ein Rennen gewinne, dann ist das drei, vier Tage interessant. Danach kann sich aber niemand mehr daran erinnern. Kaum jemand kann sich an Rennen erinnern, die ich gewonnen habe. Aber an Platz sieben 2008 in Brasilien erinnert sich jeder.

Ärgerlich?
Ich kann's ja nicht ändern und mich stört das auch nicht. Wenn du aber falsch mit so etwas umgehst, kann das schon einen Einfluss haben. Du musst für dich einen Weg finden, damit umzugehen. Ich habe damit kein Problem.

War es früher mal ein Problem für dich?
Früher haben mich die Hass-Kommentare gestört. Das habe ich aber irgendwann abgelegt, weil ich eh nicht jedem Einzelnen erklären konnte, was wirklich passiert ist. Nachdem dann die Onobard-Aufnahmen veröffentlicht wurden, ist es deutlich abgeflacht.

Wenn du wählen könntest: Woran sollen sich die Leute zuerst erinnern, wenn sie an deine Karriere im Motorsport denken?
Mit Blick auf meine Zeit in der Formel 1 würde ich mich freuen, wenn sich die Leute nicht zuerst an Brasilien 2008, sondern an Singapur 2009 erinnern, als ich mit einem unterlegenen Toyota auf den zweiten Platz gefahren bin. Das war ein absolutes Highlight. Und wenn man an die DTM denkt, dann wünsche ich mir, dass sich die Leute an mein Duell mit Gary Paffett beim Saisonauftakt in Hockenheim erinnern. Geile Zweikämpfe repräsentieren den Sport und das Duell mit Gary war in meinen Augen das beste. Aber am Ende sagen die Leute dann wahrscheinlich trotzdem: 'Glock? Das war doch der 2008 mit der Formel-1-Entscheidung'...

Denkst du, dass man auch in zehn Jahren noch über deine Rolle beim Brasilien-Finale 2008 sprechen wird?
Es ist schon in der Geschichte verankert. Ich glaube aber, dass es nachlassen wird, wenn Lewis Hamilton mal nicht mehr in der Formel 1 fährt. Wenn er mal abtritt, dann ist auch das Thema nicht mehr so präsent und es wird nicht mehr so viel darüber gesprochen.

In deiner aktuellen Rolle als Formel-1-Experte für RTL könntest du das Thema noch mal aufrollen.
Die beste Variante wäre dann wohl, mit Hamilton beim Brasilien Grand Prix ein 1-zu-1-Interview zu machen. Das wäre 'ne echte Nummer, ein Kracher! Ich überlege aber gerade, ob es so clever wäre, das Fass ausgerechnet in Brasilien noch mal aufzumachen...

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