Der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Als die Gebrüder Grimm den berühmten Satz schrieben, wussten sie noch nicht, dass sich 200 Jahre später ein gesamter Wissenschaftszweig mit der Lehre der Winde befassen würde. Was wäre die Formel 1 heute ohne Aerodynamik? Die Aerodynamik ist es, die die Autos erst zu dem machen, was sie heute sind - nämlich pfeilschnell. Es gab in der Geschichte der Königsklasse Autos mit mehr Leistung, mit weniger Gewicht und mit raffinierterem Fahrwerk. Doch die Boliden des Jahrgangs 2018 sind die schnellsten Autos, die je auf diesem Planeten Rennen fuhren.

Verantwortlich dafür ist die Aerodynamik. Sie ist - neben den Reifen - der Performance-Treiber Nummer eins. Nicht nur die Top-Teams beschäftigen eine ganze Armada an Aerodynamik-Ingenieuren, auch bei kleineren Rennställen steht die Aerodynamik über allem. Trotz Test- und Rechenbeschränkungen wird die meiste Performance noch immer im Windkanal und an CFD-Rechnern gefunden. Doch die Aerodynamik ist ein zweischneidiges Schwert.

Ingenieure entwickeln ein Fahrzeug, das unter Normbedingungen perfekt funktioniert. Das Auto soll sich möglichst wenig um die eigenen Achsen bewegen, damit eine stabile Plattform gegeben ist. Schon das Einschlagen der freistehenden Vorderräder stellt für die aerodynamische Stabilität eine mittlere Katastrophe dar.

Der Super-GAU ist es aber, wenn ein anderes Fahrzeug vor einem herfährt. Dann nämlich wird das eigene Fahrzeug nicht mehr richtig angeströmt und verliert schlagartig an Abtrieb. Dadurch rutscht das Auto, die Oberflächen der Reifen beginnen zu überhitzen und man gerät in einen Teufelskreis. Die graue Theorie wird in jedem Formel-1-Rennen sichtbar. Überholen in ähnlich schnellen Autos ist nahezu unmöglich.

Das Problem wurde 2017 verschlimmert. Die Autos sollten wieder spektakulärer aussehen und vor allem schneller sein. Nachdem zuvor über Jahrzehnte hinweg die Aerodynamik immer mehr beschnitten wurde, ging man plötzlich den anderen Weg und gab den Teams mehr Freiheiten. Gleichzeitig wurden die Autos breiter, sind nun 2,00 Meter statt 1,80 Meter breit. Tatsächlich ging der Plan auf: Die Autos sehen deutlich aggressiver und gefälliger aus und pulverisieren nach und nach Rundenrekorde. Doch die Kehrseite der Medaille ist die Rennaction. Durch die breiteren Autos ist schlichtweg weniger Platz zum Überholen und die Aerodynamik ist noch anfälliger.

Nachströmung wird zum Überholproblem

Das Hauptproblem bezeichnen die Experten als Wake. Wake - oder Nachströmung - ist mehr als nur ein einfacher Windschatten. Man kann sich gut vorstellen, dass ein sich bewegender Körper einen Windschatten hinter sich herzieht. Wer sich in diesem Windschatten bewegt, muss selbst für die gleiche Bewegung weniger Energie aufwenden, weil er nicht so viel Luft verdrängen muss. Doch die Formel 1 ist komplizierter. Es gibt nicht nur einen einfachen Windschatten, sondern Verwirbelungen.

Im Wesentlichen ändert das aber nur die Komplexität des Problems. Auf den Geraden sind die Verwirbelungen kein Problem, sie fungieren, wie man sich einen Windschatten vorstellt. Der Hintermann profitiert, weil er weniger Energie aufwenden muss, um die Luft zu verdrängen. In den Kurven allerdings beginnen die Probleme. Dort nämlich soll möglichst viel Luft auf jedes aerodynamische Element treffen, um Abtrieb zu erzeugen. Durch den Wake ist das allerdings sehr ungleichmäßig. Hinter einem Auto entstehen Bereiche unterschiedlich energetischer Luft.

Hauptverantwortlich dafür ist die komplexe Aerodynamik der Autos. Die Ingenieure verstehen ihr Fach inzwischen so gut, dass sie absichtlich unzählige Verwirbelungen erzeugen, um den Luftstrom am eigenen Auto in gewollte Bahnen zu lenken. Die Vorderreifen erzeugen sehr viele ungewollte Verwirbelungen. Um die von der eigenen Aerodynamik wegzulenken, nutzen sie die Frontflügel und die Bremsbelüftungen. Das Problem daran ist, dass dadurch die Luft hinter dem Auto umso stärker verwirbelt wird. Der Nachstrom, umgangssprachlich auch als Dirty Air bezeichnet, wird immer ungünstiger für den Hinterherfahrenden.

Vorderreifen erzeugen schlimme Verwirbelungen

Je besser die Ingenieure die Verwirbelungen der Vorderreifen kontrollieren können, desto mehr Abtrieb generieren ihre Autos, desto schlimmer wird aber auch die Überhol-Problematik. Weil die Entwicklung nie still seht, wird Überholen also immer schwieriger. Schon von 2017 auf 2018 war hier ein großer Sprung zu erkennen. Die neuen Formel-1-Bosse wollten das so nicht hinnehmen und setzten ein eigenes Team an die Problemlösung. Im Gegensatz zu früher verlässt man sich nicht mehr ausschließlich auf die Expertise der Teams.

Dafür engagierte Liberty Media keinen geringeren als Pat Symonds, der nun als Chef-Techniker des kommerziellen Rechteinhabers fungiert. Symonds beschäftigte sich bereits intensiv mit dem Überhol-Problem. In erster Linie in Hinblick auf 2021. In der Zeit nach dem aktuellen Concorde Agreement, wenn kommerzielle Verträge und technische Reglements auslaufen, soll die große Revolution kommen. Aber so lange wollte man nicht warten, um den Sport besser zu machen. Deshalb versuchte man mit aller Gewalt, schon für 2019 Änderungen vorzunehmen.

Kein einfaches Unterfangen in der Formel 1. Ende März präsentierte Symonds die Änderungen, die er mit seinem Team und mit der FIA erarbeitet hatte, den Teams. Die Zeit war knapp, weil nach dem 30. April Änderungen nur noch einstimmig möglich sind. Grob umrissen lauteten die Vorschläge: Ein einfacherer, dafür aber größerer Frontflügel. Dazu eine Vereinfachung der Bremsbelüftungen und geringfügige Änderungen am Heckflügel. Alle Teams erhielten zusätzliche Rechenkapazitäten, um die Vorschläge simulieren zu können, ohne Terraflops für die eigene Entwicklung opfern zu müssen. Acht der Zehn Teams nahmen das Angebot an und simulierten fleißig. Obwohl es kurz vor der Abstimmung nicht so aussah, als würden die Teams die Änderungen befürworten, gab es ein kleines Formel-1-Wunder. Die Mehrheit konnte sich tatsächlich dazu durchringen, für die Anpassungen im Jahr 2019 zu stimmen.

Frontflügel werden 2019 einfacher, dafür größer

Das Grundgerüst für die neuen Regeln stand damit. Die genaue Ausarbeitung dauerte allerdings noch Wochen und Monate. Die Regelhüter wollte das Risiko von Schlupflöchern minimieren. Deshalb kam es auch nach der Abstimmung noch zu zahlreichen Treffen, in denen der genaue Wortlaut des Reglements ausgearbeitet wurde. Wichtig war nur, dass das Grundgerüst bis zum Ende der Deadline stand. Die Feinheiten, die Regelauslegung, kann Rennleiter Charlie Whiting auch mit Technischen Direktiven klarstellen, sollten sich die Teams nicht einstimmig dazu durchringen können. Bei Abmaßen geht das freilich nicht - die sind eindeutig vom Reglement festgelegt.

Force India testete bereits einen 2019er Frontflügel, Foto: Sutton
Force India testete bereits einen 2019er Frontflügel, Foto: Sutton

Die größte Änderung betrifft den Frontflügel. Die komplexen Gebilde aus unzähligen Elementen gehören der Vergangenheit an. Zwischen der neutralen Zone - die weiterhin 250 Millimeter von der Fahrzeugmittelachse endet - und den Frontflügelendplatten darf es ab 2019 nur noch fünf einzelne Segmente geben. Alle Aufbauten, die auf den normalen Elementen angebracht sind, sind verboten. Das ist ein gravierender Einschnitt, weil genau diese Komplexität des Frontflügels die Luftverwirbelungen um die Vorderräder bekämpfte. Selbst die einfachsten Lösungen der aktuellen Flügel zeigen schon fünf Hauptelemente, die in mindestens acht kleinere Elemente abzweigen. Dazu kommen bei allen Teams noch komplexe Aufbauten dazu.

Gleichzeitig sind auch die Endplatten regelrechte Kunstwerke. Hier setzen die neuen Aerodynamik-Regeln ebenfalls den Rotstift an: Sie müssen sehr einfach gehalten werden und dürfen maximal im Winkel von 15 Grad nach außen zeigen. Dazu werden die vertikalen Leitbleche unter dem Flügel auf maximal zwei Elemente beschränkt.

Ein 2019er Frontflügel von unten: Nur noch zwei vertikale Leitbleche sind erlaubt, Foto: FOM
Ein 2019er Frontflügel von unten: Nur noch zwei vertikale Leitbleche sind erlaubt, Foto: FOM

Aus dem gleichen Grund werden auch die Bremsbelüftungen vereinfacht. Sie dienten in den letzten Jahren immer weniger ihrem eigentlich Zweck - nämlich der Bremse Kühlluft zukommen zu lassen. Stattdessen erzeugten sie Verwirbelungen, um den aerodynamisch negativen Effekt der Vorderräder zu eliminieren. Auch die durchblasenen Radnaben waren dafür an den Autos - sie sind ab sofort ebenfalls verboten.

All diese Änderungen sorgen zwar dafür, dass nicht mehr so viel verwirbelte Luft um das eigene Auto herum gelenkt wird, verschlechtert allerdings gleichzeitig die Luft direkt hinter dem Auto. Um diesen Effekt abzufedern, werden die Heckflügeldimensionen leicht angepasst. Er wird 100 Millimeter breiter, 70 Millimeter höher und 100 Millimeter tiefer.

Frontflügel20182019
Breite18002000
Höhe200225
Tiefe750775
Zahl FlügelelementeUnbegrenztMax. 5
Endplatten-WinkelUnbegrenztMax. 15°
Bargeboards20182019
Höhe475350
Heckflügel20182019
Breite9501050
Höhe800870
Tiefe710810
DRS-Slot6585

Fertig ist das 2019er Reglement? Nicht ganz. Sinn und Zweck der Regel-Revolution von 2017 war es, die Autos wieder schneller zu machen. Nun schränkt man die Aerodynamik also wieder ein und macht die Autos wieder langsamer? Jein. Die Boliden werden durch die Änderungen Performance verlieren. Ein Teil davon wird allerdings dadurch kompensiert, dass die Frontflügel breiter werden. Sie spannen sich zukünftig über die gesamte Fahrzeugbreite, sind damit also 20 Zentimeter breiter als bisher. Außerdem werden sie 2,5 Zentimeter höher und ebenfalls 2,5 Zentimeter tiefer. Dadurch wird die Fläche größer, mit der Abtrieb erzeugt wird.

Trotzdem wir das Performance-Level nach unten gehen. "Etwa die Hälfte bis ein Drittel der Performance, die wir mit der Regeländerung 2017 gewonnen haben, werden wir wieder verlieren", sagte Nikolas Tombazis, Formel-1-Technik-Chef der FIA, Motorsport-Magazin.com. "Wir erwarten, etwa 1,5 Sekunden zu verlieren, aber es ist schwierig, das exakt vorherzusagen, weil wir die Entwicklungen der Teams nicht kennen. Performance verlieren werden wir aber auf jeden Fall."

Das sagten zumindest die ersten Simulationen. Inzwischen haben die Teams auch schon unter dem neuen Reglement wieder Performance gefunden. "Unsere Simulationen zeigen, dass wir mindestens mit dem gleichen Downforce-Level wie in Barcelona in diesem Jahr starten werden", verrät Red Bulls Motorsportberater Dr. Helmut Marko. Dem Grazer gefallen die neuen Regeln ganz und gar nicht: "Das ist ein Kostenfaktor von 15 Millionen! Und dass das Überholen dadurch leichter werden soll, ist nicht absehbar."

Den Kritikern nimmt Tombazis aber den Wind aus den Segeln: "Die Wahrscheinlichkeit, dass es besser wird, ist hoch. Es besteht auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir es nur ein wenig besser machen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es schlechter wird, ist in meinen Augen nahe, wenn nicht gleich Null." Auch wenn die Zeit beschränkt war, abgesehen von der Aerodynamik-Revolution von 2009 floss laut FIA in keine Regeländerung mehr Forschungsarbeit als in diese.

Überholproblematik 2019 um 20 Prozent besser

Trotzdem sind genaue Prognosen schwer. Wie lässt sich der Erfolg messen? Das Thema ist auch hier komplex: Zeitlicher Abstand, räumliche Distanz oder Überholmanöver? In den Simulationen geht es um Distanz. Je nach Abstand hinter dem Auto ist die Luft anders verwirbelt. 20 Meter dahinter ist der Effekt riesig, 40 Meter dahinter wird es etwas besser. Durch die neuen Regeln sollen in allen Bereichen leichte Verbesserungen zu spüren sein. "Wenn ein Auto mit einem bestimmten Performance-Vorteil jetzt eine Sekunde hinter dem Vordermann fahren kann, wird es das 2019 wahrscheinlich 0,8 Sekunden dahinter schaffen", glaubt Tombazis. "Bei ähnlichem Performance-Verlust wird er etwas enger folgen können."

Das neue Gesicht der Formel 1: Breiter, dafür weniger komplex, Foto: FOM
Das neue Gesicht der Formel 1: Breiter, dafür weniger komplex, Foto: FOM

Gleichzeitig wird der DRS-Effekt größer. Der obere Flap darf nun 8,5 statt wie bisher 6,5 nach oben klappen. Ausgerechnet das künstliche Überholen soll noch einfacher werden? Nein, es gibt nur mehr Spielraum. Auf Strecken wie Melbourne werden die DRS-Zonen dadurch effektiver, Überholmanöver werden überhaupt erst möglich. Auf Strecken, auf denen der DRS-Effekt bereits groß genug war, können die Zonen auch verkleinert werden. Deshalb gibt es für jede Strecke eigene Simulationen. "Es gibt Strecken, auf denen ist überholen nie einfach. Barcelona zum Beispiel. Es geht darum, es dort möglich zu machen", erklärt Tombazis.

Sind die 2019er Regeln schon ein Ausblick auf die Zeit nach 2020? Die Antwort lautet nein. Es ging zunächst nur darum, die Erkenntnisse umzusetzen. Der Rahmen für die Umsetzung war allerdings extrem beschränkt. Nach der Regeländerung 2017 wollten die Teams nicht nach zwei Jahren wieder die nächste Revolution. Deshalb nahm man sich nur Bereiche vor, in denen mit kleinen Änderungen schon positive Effekte erreicht werden können. Es ist Detailarbeit. Für 2021 hingegen steht die Formel 1 allumfänglich auf dem Prüfstand. Denkverbote gibt es keine. Auch wenn 2019 noch kein Ausblick ist, die neuen Regeln werden zumindest zeigen, ob man den Forschungen auch in der Realität trauen kann.

Lust auf mehr? Dieser Artikel erschien in leicht abgewandelter Form in der Pint-Ausgabe von Motorsport-Magazin.com. Die wird es auch in der Saison 2019 wieder geben. Natürlich in jedem gut sortierten Zeitschriftenhandel, im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel, und selbstverständlich auch online - einfach dem Link folgen!

Hilfreiche Links zum Thema Formel-1-Regeln 2019