Beim Qualifying der Formel 1 in Brasilien sorgten mit Sebastian Vettel und Lewis Hamilton gleich zwei der absoluten Top-Fahrer im Feld für strittige Szenen. Während der Ferrari-Pilot die Waage der FIA zerstörte und eine Verwarnung sowie eine Geldstrafe erhielt, sorgte der Weltmeister auf der Rennstrecke mit Sergey Sirotkin für eine haarige Aktion.

Hamilton hatte auf seiner Outlap auf der Ideallinie gebummelt, als der Williams-Pilot mit hohem Tempo auf ihn auflief. Im letzten Moment wollte der Brite dem Konkurrenten die Linie freigeben. Sirotkin hatte sich jedoch bereits dazu entschieden, einen Bogen um den Silberpfeil zu fahren. Der Russe schaffte es gerade so, Hamilton auszuweichen und eine Kollision zu verhindern.

Wenn auch unabsichtlich, hatte Hamilton sich in dieser Szene eigentlich sehr eindeutig der Behinderung und Gefährdung eines anderen Piloten schuldig gemacht. Überraschenderweise sprach die FIA keine Strafe gegen ihn aus, untersuchte den Zwischenfall nicht einmal. Eine Entscheidung, die am Samstagabend in Interlagos durchaus Fragen aufwarf.

Offizielle sahen keine Notwendigkeit für Untersuchung

Formel-1-Rennleiter Charlie Whiting bezog nach dem Rennen in seinem Media-Briefing Stellung zu seinem Vorgehen und dem der Stewards. "Das sah ein bisschen angsteinflößend aus, das gebe ich zu", so der 66-Jährige. "Ich habe mit den Stewards diskutiert, ob sie es im Nachhinein noch untersuchen wollten, doch sie hatten nicht das Gefühl, dass das notwendig war."

Die Stewards am vorletzten Rennwochenende der Saison 2018 hießen Tim Mayer, Silvia Bellot, Emanuele Pirro und Felipe Giaffone. Letztere verfügen selbst über langjährige Erfahrung als Profirennfahrer. Pirro fuhr von 1989 bis 1991 Formel 1 und war danach in Touren- und Sportwagen international erfolgreich, der Brasilianer Giaffone hatte von 1996 bis 2006 eine Karriere in Indy Lights und IndyCar.

Anders als bei vielen vorherigen Entscheidungen in der laufenden Saison, verfolgten die Stewards beim Fall Hamilton vs. Sirotkin eine andere Herangehensweise. Ursprünglich sollen die Konsequenzen einer Aktion bei der Entscheidungsfindung nicht miteinbezogen werden. Sprich, ein Fehlverhalten eines Piloten sollte immer auf die gleiche Weise geahndet werden, unabhängig davon, welche Folgen dieses hatte.

Whiting entlastet Hamilton: Sirotkin und er waren auf der Outlap

Bei Hamilton sahen die Offiziellen dies aber offenbar doch anders. Der Brite wurde nicht bestraft, weil Sirotkin dadurch sportlich keinen Nachteil gehabt haben soll. "Der überwiegende Grund war, dass beide Fahrer auf ihrer Outlap waren", sagt Whiting. Da Sirotkin also auf keiner schnellen Runde war, wurde Hamiltons Aktion nicht als Behinderung gewertet.

Hamilton hatte sich unmittelbar nach der Szene darüber beklagt, dass Sirotkin sich nicht an die in der Formel 1 üblichen Gepflogenheiten auf der Outlap gehalten habe. Das Gentlemen's Agreement unter den Piloten besagt, dass die Reihenfolge der Fahrzeuge in den letzten Kurven beibehalten wird, damit jeder seine fliegende Runde sauber vorbereiten und ohne Verkehr in Angriff nehmen kann.

Hamilton vs. Sirotkin einfach ein Missverständnis

Obwohl dieser Ablauf nicht im Reglement verankert ist, spielte er bei der Beurteilung der FIA eine entscheidende Rolle. "Lewis hat das so gehandhabt und ihm wurde gesagt, dass Sergey auch auf seiner Outlap ist", erklärt Whiting. "Lewis dachte also, dass es die übliche Routine ist, und ließ einen Abstand nach vorne."

Auf kurzen Rennstrecken wie Interlagos führt diese Prozedur dazu, dass sich die Autos zum Ende der Runde noch mehr stauen und teilweise sehr langsam unterwegs sind. Anders als Hamilton ging Sirotkin in diesem Fall nicht der üblichen Routine nach. "Sergey hatte das Gefühl, viel schneller fahren zu müssen. Es gab offenbar ein Problem mit seinen Reifenwärmern, deshalb kam er mit Vollgas aus Kurve elf", sagt Whiting.

Hamilton machte in diesem Moment für sein Verständnis nichts falsch: "Er fuhr zur Seite um ihn vorbeizulassen, aber Sergey hatte sich schon für die linke Seite entschieden. Das war der Grund für den Zwischenfall. Für mich war es einfach ein Missverständnis. Für mich war sofort klar, was passiert ist. Niemand hat etwas falsch gemacht."

Anhörung durch Stewards nur bei Unfall zwischen Hamilton und Sirotkin

Ungewohnte Töne von Whiting, denn normalerweise soll es keine Rolle spielen, ob ein Pilot vorsätzlich oder versehentlich für eine gefährliche Situation sorgt. Bei Hamilton und Sirotkin fehlte nicht viel, und die Szene hätte mit einem Unfall geendet. "Hätte es einen Kontakt zwischen Lewis und Sergey gegeben, wäre es wahrscheinlich ein heftiger Unfall gewesen. Das hätte wahrscheinlich bedeutet, dass die Stewards mit den Fahrern gesprochen hätten", sagt Whiting.

Wäre dies für die Offiziellen Anlass genug gewesen, zu einer anderen Entscheidung zu kommen? "Ich bezweifle, dass dann etwas anderes dabei herausgekommen wäre, denn die Umstände die dazu geführte haben, wären immer noch dieselben", wiegelt Whiting ab. Andererseits hätte ein Unfall auch etwas ändern können, denn entgegen der eigentlichen Prämisse räumt er ein: "Die Konsequenzen eines Zwischenfalls werden manchmal schon berücksichtigt."