Nach dem WM-Debakel in Monza sollte Singapur der perfekte Ort für Ferraris Revanche werden. Der Marina Bay Street Circuit ist nach Monaco der langsamste Kurs im Formel-1-Kalender und stellte Mercedes in den vergangenen Saisons vor größere Probleme. Selbst in den Jahren der totalen Mercedes-Dominanz hatten die Silberpfeile längst keine Sieg-Garantie.

Ferrari hingegen spielte in der asiatischen Metropole zumindest performance-technisch in den letzten Jahren groß auf. Entsprechend waren vor dem 15. Lauf zur Formel-1-Weltmeisterschaft 2018 die Rollen verteilt. Bis zum 3. Freien Training wurde Ferrari der Favoritenrolle noch gerecht, doch im Qualifying änderte sich das plötzlich schlagartig.

Für Sebastian Vettel stand am Ende nur Startplatz drei. Der WM-Zweite war satte sieben Zehntelsekunden langsamer als der Pole-Setter - der einmal mehr ausgerechnet Lewis Hamilton heißt. Der Mercedes-Pilot nutzt in dieser Saison jede noch so kleine Möglichkeit und presst das Maximum heraus. Zu allem Überfluss für Vettel schob sich auch noch Max Verstappen im Red Bull zwischen die beiden WM-Favoriten.

Mercedes in Singapur 4,1 Sekunden schneller als 2017

Durch die deutlich weicheren Reifen und die weiterentwickelten Autos sanken die Rundenzeiten in Singapur 2018 enorm. Die Pole-Zeit war fast 3,5 Sekunden schneller als vor einem Jahr. Ungut für Vettel: Während sich Mercedes um 4,1 Sekunden steigerte, fand Ferrari in den vergangenen zwölf Monaten lediglich 2,9 Sekunden.

Tatsächlich führten mehrere Faktoren zur deutlichen Qualifying-Schlappe. Hamilton legte eine, wie Teamchef Toto Wolff sagte, 'surreale' Runde hin. Dazu machten die Mercedes-Ingenieure auch entscheidende Verbesserungen. "Ich denke, dass uns auch die Schwierigkeiten in Spa geholfen haben", glaubt Wolff. Hamilton-Teamkollege Valtteri Bottas meint: "Es war deutlich besser zu fahren, aber das Auto ist noch immer nicht für diese Strecke gemacht."

Das bestätigte auch Sebastian Vettel indirekt: "Ich glaube nicht, dass Lewis heute unschlagbar war." Noch zu Beginn des Wochenendes hatte der Deutsche angesichts der sich anhäufenden Fehler und der klaren Favoritenrolle gemeint, selbst sein größter Feind zu sein. Ob Ferrari und Vettel sich selbst die größten Feinde waren, ist nicht klar, aber geholfen haben sie sich selbst nicht. Vettel gesteht: "Wir hatten die Zutaten, aber wir haben sie nicht zusammengepackt."

Vettels Probleme beginnen mit Mauerkontakt im Training

Im dritten Freien Training sah Ferrari nach dem großen Favorit für das Qualifying aus. Vettel hatte eine satte halbe Sekunde Vorsprung auf Hamilton. Doch bis zum Zeittraining sollten sich zwei Faktoren ändern. Einerseits die Strecke. FP3 fand noch bei Tageslicht statt, während im Qualifying bei Flutlicht gefahren wurde. Die Streckentemperatur war also deutlich niedriger.

Das war aber offenbar nicht der einzige Grund dafür, warum Ferrari so große Probleme damit hatte, die Reifen auf Temperatur zu bekommen. Vettel fuhr seine Bestzeit im 3. Training auffällig früh. Der Grund dafür ist klar: Er musste noch einen Longrun fahren, den er am Freitag aufgrund seines kleinen Mauerkontakts verpasst hatte.

Vettels Longrun sah nicht besonders berauschend aus. Schon nach fünf Runden schienen ihm die Hypersofts einzugehen. Die Konkurrenz vermutete schon da, dass Ferrari wohl nicht mit diesem Setup ins Qualifying gehen würde.

Bei Ferrari kam einmal mehr viel zusammen. Dazu ging die Q2-Strategie nicht auf. Räikkönen und Vettel versuchten, sich auf Ultrasoft für das finale Segment zu qualifizieren. Doch beide mussten noch einmal auf Hypersoft ausrücken, weil ihre Ultrasoft-Zeiten nicht ausreichten. Vettel wollte noch einen Run auf Ultrasoft riskieren, glaubte noch eine halbe Sekunde herausholen zu können. Doch Ferrari überstimmte ihn schließlich. "Zu riskant", sagte man ihm am Funk.

"Schade, dass das nicht geklappt hat", beklagte er. "So fahren wir alle mit den gleichen Reifen los, was vielleicht ein bisschen langweilig ist. Hätte es für uns geklappt, wäre es gerade in dieser Situation jetzt gut gewesen." In dieser Situation bedeutet Startplatz drei. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte man auch bei Ferrari noch fest damit gerechnet, im Q3 Favorit zu sein.

Mercedes spielte all das in die Karten. Beide Teams gingen mit identischem Reifenkontingent ins Qualifying. Doch Mercedes nutzte die Ultrasofts nicht im Q2, sondern im Q1. Lewis Hamilton schaffte den Sprung mit Platz 14 denkbar knapp. Sauber-Teamchef Fred Vasseur schickte seinem Freund Wolff die passende Nachricht: "Kennst du den Unterschied zwischen einem Idioten und einem Genie? Zwei Zehntel..." Zwei Zehntel retteten Hamilton am Ende. "Und dadurch waren wir in der bestmöglichen Situation mit vier Sätzen Hypersoft", freute sich Wolff.

Ferrari-Probleme summieren sich im Q3

Im Q3 kulminierten die Ferrari-Probleme dann. Die plötzlichen Probleme, die Reifen aufzuwärmen, führten dazu, dass Vettel und Räikkönen ihre Outlaps aggressiver fahren mussten. Dadurch stimmte aber das Timing nicht mehr, Ferrari fand sich plötzlich in der Outlap im Verkehr. "Wenn man auf der Outlap ein Mini-Rennen fahren muss, ist das nicht ideal", klagte Vettel.

Warum an dieser Stelle eine so ausführliche Nachbetrachtung des Qualifyings nötig ist? Zum einen, weil wir Erklärungen brauchen, warum unsere Prognosen falsch waren. Zum anderen, weil es zeigt, dass Mercedes nicht 0,7 Sekunden schneller pro Runde ist als Ferrari. "Viele Kleinigkeiten summieren sich hier über die Runde", stimmt Vettel zu. Mit 23 Kurven ist Singapur Rekordhalter in Sachen Richtungsänderungen im Formel-1-Kalender. Die lange Rundenzeit trägt ihr Übriges dazu bei.

Die Top-Teams sind durchaus sehr eng zusammen. Dazu gehört auch Red Bull. Überraschend war nur, dass Max Verstappen schon im Qualifying so nah dran war. Damit hatten nur die wenigsten gerechnet, am wenigsten er selbst. "Es fühlt sich daher wie ein Sieg an", freute er sich. Den gesamten Samstag über bereitete ihm der Motor im stärksten Leistungsmodus Probleme, Fehlzündungen sorgten für ein eigenartiges Ansprechverhalten. Dazu kommt das generelle Leistungsdefizit im finalen Qualifikationsabschnitt.

Singapur GP 2018 Longruns 2. Training Hypersoft

FahrerReifen-AlterStint-LängeGefahren gegenDurchschntl. Zeit
Bottas103Ende1:45,807
Ricciardo168Anfang1:45,988
Hamilton169Anfang1:46,062
Verstappen144Anfang1:46,252
Räikkönen179Anfang1:46,253

Entsprechend stark ist das Qualifikationsergebnis einzuschätzen. "Und im Rennen dreht man die Leistung ohnehin runter. Der Motor machte an diesem Wochenende nur Probleme, wenn man ans Limit ging. In den Longruns gestern hatte ich keine Probleme." Die Motoren-Zuversicht gepaart mit den starken Longrun-Zeiten vom Freitag machen Red Bull zum ernsthaften Siegkandidaten.

Singapur GP 2018 Longruns 2. Training Ultrasoft

FahrerReifen-AlterStint-LängeGefahren gegenDurchschntl. Zeit
Verstappen145Ende1:44,716
Ricciardo175Ende1:44,779
Räikkönen188Ende1:45,631
Bottas189Anfang1:46,248

Eine seriöse Einschätzung, welches der drei Top-Teams bei der Rennpace die Nase vorne haben wird, ist kaum möglich. Zu eng liegen Mercedes, Ferrari und Red Bull zusammen. Genau das könnte für Verstappen und Vettel zum Problem werden. Wie sollen sie unter diesen Voraussetzungen auf einer Strecke, auf der quasi Überholverbot herrscht, vorbeikommen?

Entgegen der Pirelli-Prognosen vom Freitag wird der Singapur GP auch wohl kein Zweistopp-Rennen. Alle versuchen unter normalen Umständen, mit einem Stopp durchzukommen. Das macht Ferraris verlorenen Reifen-Poker im Q2 umso bitterer. Die Hypersoft-Pneus halten heute im ersten Stint nicht viel länger als zehn Runden. Der Ultrasoft wäre der große Joker gewesen.

Pirellis geupdatete Strategie-Vorschau

  • Schnellste: 1 Stopp - 24 Runden Ultrasoft, Soft bis Rennende
  • 2. Schnellste: 1 Stopp - 13 Runden Hypersoft, Soft bis Rennende
  • 3. Schnellste: 2 Stopps - 11 Runden Hypersoft, 2x 25 Runden Ultrasoft

Vettel sieht das Rennen trotzdem noch nicht verloren: "Wir haben zwei Stunden Zeit, etwas zu machen." Der Singapur GP ist fast immer das längste Rennen der Saison und kratzt an der Obergrenze von zwei Stunden. Und dazu bietet Singapur traditionell noch weitere Überraschungen. "Jeder plant mit einem Stopp, aber dann kommt das Safety-Car und alles wird über den Haufen geworden. Man muss einfach variabel sein", meint Valtteri Bottas.

Motorsport-Magazin.com-Prognose: Schwierig bis unmöglich! Gut möglich jedoch, dass Red Bull im Rennen heute das schnellste Auto hat - doch wie soll Verstappen an Hamilton vorbeikommen?