Seit Beginn der Turbo-Hybrid-Ära 2014 hatte Mercedes immerwegs den stärksten Motor in der Formel 1 - pardon, die stärkste Power Unit, wie man seither zu sagen pflegt. Anfangs war der Vorsprung auf die Konkurrenz erschreckend groß, über die letzten Jahre konnte zumindest Ferrari aufschließen.

2018 scheint Ferrari Mercedes nicht nur ein-, sondern sogar schon überholt zu haben. Zumindest seit die Italiener beim Kanada GP ihre letzte Ausbaustufe zündeten. In Hockenheim rechnete Mercedes Motorsportchef Toto Wolff bereits in bester Red-Bull-Manier vor, dass man auf den Geraden rund eine halbe Sekunde auf Ferrari verlieren würde. "Aber ich will mich nicht darüber beschweren, das hat Christian Horner schon die letzten Jahre gemacht", schickte er scherzhaft hinterher.

Wolff kann sich über das Leistungsdefizit nicht beschweren, weil man den Motor im Gegensatz zu Red Bull nicht einkauft. Stattdessen wird die Power Unit bei Mercedes High Performance Powertrains in Brixworth entwickelt und gebaut.

In der Formel 1 sind sich quasi alle einig, dass Ferrari nun den stärksten Motor hat. Das Problem: Mit Zahlen ist das schwer zu untermauern. Maximal vier offizielle Geschwindigkeitsmessstellen gibt es auf Formel-1-Strecken. Jeweils am Sektorende, auf der Ziellinie und an einer zusätzlichen Position wird gemessen.

Je nach Strecke sind diese Werte mal mehr, mal weniger aussagekräftig. Das Problem: Die Werte sind in den offiziellen Tabellen auch noch vermischt. Hinter den Geschwindigkeiten steht nicht, in welcher Runde der Wert erzielt wurde. Dazu können einzelne Werte irreführend sein, weil Effekte wie Windschatten oder DRS eine Rolle spielen.

Ferrari beim Topspeed nicht weit vor Mercedes

Bei den prominentesten Messwerten handelt es sich um die Topspeeds. Die sind für die Motorleistung aber nur bedingt relevant. Der Luftwiderstand steigt quadratisch zur Geschwindigkeit. Doppelte Geschwindigkeit bedeutet also vierfacher Luftwiderstand. Mit zunehmender Geschwindigkeit verschiebt sich die Gewichtung von Motorleistung hin zu aerodynamischer Effizienz.

Im unteren Geschwindigkeitsbereich bestimmt die Traktion die Geschwindigkeit maßgeblich. Um für die Motorleistung relevante Daten zu finden, muss man ein wenig suchen. Bei den modernen Power Units noch länger als bei den herkömmlichen Verbrennern.

In Silverstone beispielsweise hatten die Renault-Teams erhebliche Probleme, weil die MGU-H in den schnellen Passagen deutlich weniger Energie rekuperieren konnte als bei den Konkurrenz-Aggregaten. Auf den meisten Strecken fällt das MGU-H-Defizit nicht so sehr ins Gewicht, weil es zwischen Vollgas-Passagen genügend Bremsphasen gibt, damit die MGU-K die Batterie laden kann.

Hungaroring liefert gute Messwerte für Motor-Power

Alle Werte in der heutigen Zeit sind deshalb mit Vorsicht zu genießen. Die Teams mit ihren GPS-Daten können hier schon deutlich mehr sehen. Doch auch die normalen Geschwindigkeitsmessungen können Anhaltspunkte für die Motorleistung geben. Auf dem Hungaroring liegen die Messpunkte beispielsweise gut.

Der erste Messpunkt befindet sich unmittelbar vor Kurve vier, kurz vor dem Bremspunkt. Die Geschwindigkeit hier ist hoch genug, um die Traktions-Effekte auszumerzen und noch nicht zu hoch, damit die Aerodynamik eine zu große Rolle spielt. Die zweite Messstelle am Ausgang von Kurve elf ist nicht optimal, weil sie sich nur 100 Meter hinter der aerodynamisch anspruchsvollen Ecke befindet. Die Ziellinie hingehen ist wieder interessanter, weil sie nicht besonders weit hinter der mittelschnellen Zielkurve liegt.

Für Mercedes war der Regen im Ungarn-Qualifying ein Segen. Für die Relevanz der Geschwindigkeitswerte nicht. Deshalb blicken wir an dieser Stelle auf die Testfahrten. George Russell und Kimi Räikkönen lieferten sich eine regelrechte Schlacht um die Bestzeit mit absoluten Rekordrunden auf dem Hypersoft-Reifen. Die absoluten Zeiten lagen am Ende nur wenige Tausendstel auseinander.

Dazu eigenen sich Testfahrten, weil nur wenige Autos zeitgleich auf der Strecke sind. Räikkönen hatte dabei übrigens auch schon den neuen Ferrari-Motor im Heck, weil beim Test nicht die Rennaggregate zum Einsatz kommen. Um den Zufalls-Fehler zu verkleinern, nehmen wir die Durchschnittswerte der schnellten drei Runden jedes Piloten. Die lagen bei Räikkönen und Russell jeweils im Bereich von vier Zehntelsekunden.

Ferrari auf Start/Ziel 5 km/h schneller als Mercedes

An der ersten Messstelle war Räikkönen mit 288,5 Stundenkilometer im Schnitt 3 km/h schneller als George Russell. An der zweiten - etwas weniger relevanten Messstelle - waren es nur noch 2 km/h. Auf der Ziellinie betrug die Geschwindigkeitsdifferenz satte 5,1 km/h zugunsten des Ferrari-Fahrers. Weiter hinten auf der Zielgeraden, am Messpunkt der Höchstgeschwindigkeit, war der Mercedes nur noch 2,4 km/h langsamer.

Sektor 1Sektor 2ZiellinieTop-Speed
Mercedes (Russell)285,5257,8260,6309,4
Ferrari (Räikkönen)288,5259,8265,8311,8
Differenz3,02,05,22,4

Die angegebenen Werte sind Mittelwerte in km/h

Die Werte sprechen eine deutliche Sprache: Wann immer es auf Leistung ankommt, ist der Ferrari schneller. Doch Vorsicht: Hierbei handelt es sich nur um die Leistung auf eine schnelle Runde. Auch hier gibt es bei den Power Units große Unterschiede.

Blickt man auf die Geschwindigkeitswerte im Renntrimm, sieht die Welt ganz anders aus. Zumindest wenn man auch hier die Durchschnittswerte heranzieht. Ferrari hat offenbar größere Probleme mit dem Benzinverbrauch.

Trickst Ferrari beim Party-Modus?

In einzelnen Rennmomenten, wenn die Leistung akut gebraucht wird, also am Start oder bei Restarts, da kann Ferrari die Zusatzleistung ebenfalls abrufen. Ferraris Trumpf ist der Partymodus, einst Mercedes' große Stärke. Da die FIA den Ölverbrauch 2018 massiv eingeschränkt hat und auch genau überwacht, gibt es hier kaum Spielraum, Leistung herauszuholen.

Zweifler glauben, dass Ferrari die Regeln mit dem Benzinfluss oder mit der elektrischen Energie umgeht. Versuche mit Zwischenspeichern nach dem Fuel-Flow-Meter sind nicht neu. Doch seitens der FIA gibt es keinerlei Zweifel an der Legalität des Ferrari-Motors. "Und wir sind von grundauf misstrauisch", sagte ein FIA-Mann zu Motorsport-Magazin.com.

Mercedes nimmt Ferraris Vorsprung sportlich: "Wir haben die letzten Jahre von unserem Power-Vorteil profitiert", sagt Toto Wolff. "Jetzt hat Ferrari den besten Job gemacht und alle anderen müssen aufholen. Jetzt sind wir erstmals seit 2013 wieder der Herausforderer. Wenn du die Benchmark setzt, läufst du mit einem Fadenkreuz auf dem Rücken herum. Jetzt kennen wir das Performance-Level von Ferrari, wir sehen es jeden Tag auf der Strecke."

Doch Mercedes will es nicht dabei belassen. Notfalls geht man bis an die Grenzen, oder darüberhinaus. Wolff verspricht: "Wir leben nicht mit irgendetwas. Andy Cowell und sein Team werden keine Stein auf dem anderen lassen, um gleichzuziehen. Lieber gehen wir in Flammen auf, als bei der Performance nicht ebenbürtig zu sein."