So viel Nervenkitzel ist man in der Formel 1 gar nicht mehr gewöhnt: Schon vor einer Woche das Feuerwerk in Österreich, nun die epische Rennschlacht von Silverstone. Der Großbritannien GP 2018 war ein richtiger Kracher. Wenige Runden vor Rennende hatten vier Piloten in den vier Top-Autos noch Chancen auf den Sieg. Der Kampf ums Podium wurde in einem offenen Schlagabtausch auf der Strecke ausgetragen: Mann gegen Mann, Maschine gegen Maschine und vor allem Reifen gegen Reifen.

Silverstone 2018: Wieder Strategie-Fehler von Mercedes?: (07:12 Min.)

Denn die unterschiedlichen Reifen waren das Salz in der Suppe des Schlussspurts. Doch der Schwerpunkt der Analyse liegt auf den Runden vor dem Vierkampf. Wie sind Sebastian Vettel, Lewis Hamilton, Kimi Räikkönen und Valtteri Bottas in ihre Ausgangsposition gekommen? Hat sich Mercedes einmal mehr mit dem Safety Car verzockt? Und wem half das Safety Car letztendlich? Die große Motorsport-Magazin.com-Rennanalyse zum Silverstone-Kracher.

Nach Runde eins sahen viele das Rennen schon als gelaufen: Sebastian Vettel kam als Führender über Start/Ziel, Lewis Hamilton auf Rang 17. Kimi Räikkönen fiel zurück und erhielt zudem eine 10-Sekunden-Zeitstrafe. Einziger Vettel-Jäger war Valtteri Bottas - der das gesamte Wochenende über ein paar Zehntel Respektabstand auf Teamkollege Hamilton hatte.

Und tatsächlich konnte sich Vettel schnell von Bottas absetzen. Schon nach einem Umlauf hatte der WM-Führende 3,5 Sekunden Vorsprung auf Bottas. In Runde zehn lagen bereits 6 Sekunden zwischen Vettel und Bottas. Das Rennen schien gegessen.

War es aber nicht. Bis Vettel in Runde 20 zum Reifenwechsel kam, knabberte Bottas konstant Zehntel für Zehntel ab. 4,5 Sekunden lagen beim Stopp zwischen dem Ferrari- und dem Mercedes-Piloten. "Es war wichtig, am Anfang eine Lücke herauszufahren, was ich gemacht habe", erklärte Vettel Motorsport-Magazin.com. "Am Ende waren deshalb Valtteris Reifen in besserem Zustand."

Vettel kam in Runde 20 zum Stopp und wechselte von Soft auf Medium, Bottas tat es ihm eine Runde später gleich. Der zweite Stint endete, wie der erste begann: Bottas holte Zehntel um Zehntel auf. In Runde 32 hatte der Finne nur mehr 2,07 Sekunden Rückstand auf den Führenden.

Vettel: Safety Car hat es spannend gemacht

Dann kam das Safety-Car und das Rennen begann von vorne. Vettel stoppte, Bottas nicht. Der Ferrari-Pilot verlor dadurch Track-Position, die er sich für frische Soft-Reifen erkaufte. Am Ende hatte Vettel die Nase wieder vorne. "Doch das Safety Car hat dem ganzen nochmal etwas Würze verliehen", meinte der Deutsche später. Aber war das wirklich so?

Schließlich holte Bottas konstant auf. Und wenn sich der Eindruck des ersten Stints bestätigt hätte, hätte der Mercedes-Pilot am Ende des Rennens die besseren Karten gehabt. Ein weiterer Stopp stand für beide nicht auf dem Plan.

Auch am Freitag konnte man bei Ferrari schon den Ansatz von Blistering erkennen - Mercedes hatte damit keine Probleme. Blistering tritt vermehrt bei den härteren Reifenmischungen auf, weil die ein niedrigeres Arbeitsfenster haben. Dadurch überhitzen sie schneller. Bei über 50 Grad Asphalttemperatur ist das Risiko nicht zu unterschätzen.

Vettel: Habe das Rennen gemanagt

Vettel allerdings hatte derlei Befürchtungen nicht: "Im zweiten Stint habe ich es größtenteils kontrolliert, es wäre bis zum Ende gut gewesen." Im Nachhinein wird sich das leider nicht klären lassen, aber ein Vorsprung, der in zehn Runden von 4,5 auf 2,0 Sekunden schrumpft, sieht nicht nach kontrollieren aus. Rankommen und Überholen sind zwei Paar Stiefel, aber Bottas hätte ohne Safety Car gegen Rennende wohl das schnellere Paket gehabt.

Daran schließt sich die nächste Frage an: War die Entscheidung von Mercedes, bei der Safety-Car-Phase nicht zu stoppen richtig? Wer hat vom Safety-Car profitiert, wer nicht? Hier die Ausgangssituation vor dem Unfall von Marcus Ericsson:

Großbritannien GP, Runde 33

PositionFahrerReifen (Alter)Rückstand [s]
1VettelMedium (13)
2BottasMedium (12)2,069
3VerstappenMedium (16)14,925
4RäikkönenMedium (20)17,65
5HamiltonMedium (8)22,449
6RicciardoSoft (3)32,946
7HülkenbergHard (13)82,635

Vettel, Verstappen und Räikkönen kamen in die Box und holten sich jeweils frische Soft-Pneus. Nach den ganzen Boxenstopps lag Valtteri Bottas vor Sebastian Vettel und Lewis Hamilton. Dahinter Max Verstappen vor Kimi Räikkönen und Daniel Ricciardo.

Großbritannien GP, Runde 41

PositionFahrerReifen (Alter)Rückstand
1BottasMedium (21)
2VettelSoft (8)0,719
3HamiltonMedium (16)1,581
4VerstappenSoft (8)2,324
5RäikkönenSoft (8)2,875
6RicciardoSoft (11)3,457
7HülkenbergHard (21)3,926

Bottas gewann folglich eine Position, die Vettel verlor. Hamilton hingegen gewann zwei Positionen, sein Rückstand auf die Spitze von 22,5 Sekunden wurde eliminiert. Der größte Profiteur aber war Kimi Räikkönen: Der Finne verlor zwar eine Position an Hamilton, allerdings hätt er die wohl so und so verloren. Hamilton kam vor dem Safety-Car von hinten auf zwölf Runden frischeren Medium-Reifen angeschossen. Weil Räikkönen schon in Runde 13 zum Stopp kam, hätte er gegen Rennende am meisten Probleme mit seinen Pneus bekommen.

Im Falle von Räikkönen lässt sich also leicht sagen: Der Stopp war richtig. Der Finne landete am Ende auf Position drei. Ohne Safety-Car wäre er wohl auf Rang fünf gelandet - wenn Verstappen zu Ende gefahren wäre, sonst auf Rang vier. Die Red Bulls kann man leider getrost vergessen, weil sie am Ende keine Rolle spielten.

Bei Vettel erübrigt sich die Frage, ob der Stopp richtig war, weil er am Ende gewann. Hätt er es aber vielleicht ohne Reifenwechsel leichter gehabt, weil er nicht an Bottas vorbei gemusst hätte? Fraglich, weil bekannt ist, wie Bottas noch durchgereicht wurde. Bei Ferraris Reifenproblemen hätte das ähnlich ausgehen können.

Und wie sieht es bei den beiden Mercedes-Piloten aus? Hätte Hamilton am Ende Siegchancen gehabt, wenn er auf frische Reifen gewechselt wäre? Dazu muss man wissen, dass Mercedes im Gegensatz zu Ferrari und Red Bull gar keine nagelneuen Soft-Pneus mehr hatte, der Reifen-Vorteil also etwas kleiner ausgefallen wäre.

Mercedes-Strategie: Hamilton profitiert, Bottas leidet

Hamilton wäre beim Restart mit einem Stopp auf jeden Fall nicht auf Rang drei gewesen. Er wäre wohl noch hinter Daniel Ricciardo auf Rang sechs zurückgefallen. Die Red Bulls wären leichte Beute gewesen, doch sie hätten ihn Zeit gekostet. Dann hätte Hamilton zwar neue Reifen gehabt, wäre aber nicht nur hinter Vettel gelegen, sondern auch hinter Räikkönen.

Auch wenn Hamilton schneller war, mit ähnlichem Material in wenigen Runden zwei Ferraris überholen, das dürfte sich als schwierig erweisen. Das Risiko, auch noch hinter Räikkönen ins Ziel zu kommen, war größer als die Chance, vor Vettel zu kommen.

Das sieht auch Lewis Hamilton selbst so: "Das war die absolut richtige Entscheidung. Wenn ich mit ihnen an die Box gegangen wäre, wäre ich auf ebenbürtigen Reifen hinter ihnen herausgekommen. Dann hätte ich Schwierigkeiten gehabt, um sie zu überholen und wäre ganz sicher nicht Zweiter geworden."

Bei Valtteri Bottas sieht die Sache etwas anders aus: Der Finne wurde von Platz eins auf Rang vier durchgereicht. Mit einem Stopp wäre er beim Restart auf Rang zwei gelegen. Mit frischen Reifen wäre er definitiv nicht durchgereicht worden, sondern wäre unter normalen Bedingungen mindestens Zweiter geworden. Dass es auf etwas älteren Soft-Reifen noch zum Überholmanöver gegen Vettel gereicht hätte, ist eher unwahrscheinlich.

Letztlich war es auch hier eine Risikoabwägung: Nur durch den Verzicht auf den Stopp hatte Bottas eine Chance auf den Sieg, weil er sich die Track-Position erkaufte. Bottas stimmt zu: "Wir entschlossen uns, das Risiko einzugehen. Leider war dieser Stint auf den Medium-Reifen heute einen Tick zu lang. Rückblickend ist man immer schlauer, aber zu dem Zeitpunkt, zu dem wir die Entscheidung treffen mussten, sah ich es genauso. Ich hätte heute ganz einfach Platz zwei mitnehmen können, aber wir wollten es unbedingt wissen."

Formel 1 2018: Großbritannien Grand Prix Analyse: (53:45 Min.)

Auf den ersten Blick machte das Safety Car Sebastian Vettel das Leben schwer. Auf den zweiten Blick dürfte er aber gar nicht so unglücklich darüber gewesen sein - auch wenn Vettel selbst das nach dem Rennen noch nicht so sah.