Was für Michael Schumacher in der Formel 1 das WM-Finale 1997 in Jerez war, könnte für Sebastian Vettel in einigen Jahren der Große Preis von Aserbaidschan 2017 sein. Wie der Rekordweltmeister vor über 20 Jahren im Titelkampf gegen Jacques Villeneuve, ließ sich auch Ferraris heutiger Star-Pilot vor rund einem Jahr in Baku zu einer umstrittenen Aktion verleiten, die den Leuten wohl auch nach seinem Karriere-Ende noch im Gedächtnis sein wird. Ein Rückblick.

"Im ersten Moment hatte ich schon einen Hals. Es ist nicht schön, wenn man einen Schlag von hinten bekommt und umgedreht wird. Er ist aber nach dem Rennen zu mir gekommen und hat sich entschuldigt", so reagierte Sebastian Vettel vor anderthalb Wochen in Shanghai auf den Abschuss durch Max Verstappen, der ihm einen sicheren Platz in den Top-5 und damit wertvolle Punkte im WM-Kampf kostete. Eine Reaktion, die einige so nicht erwartet hätten.

Kein Wort des Zorns kam Vettel über Lippen, nicht einmal den erhobenen Zeigefinger gab es für den übermütigen Verstappen so wirklich. Der viermalige Weltmeister gibt sich in der Saison 2018 bisher tiefenentspannt. Nach zwei Siegen und zwei Pole Positions in den ersten drei Rennen scheint Vettel mit der roten Göttin im vierten Jahr endlich eins zu sein. Statt in der Rolle des Jägers ist er mit diesen Leistungen fast schon in der des WM-Favoriten. Eine Position, die Vettel zu gefallen scheint. Aber das war nicht immer so.

Bastard, Idiot, fuck off! Vettel teilt 2016 aus

Seit seinem Wechsel zur Scuderia in der Saison 2015 war er mit der Übermacht von Mercedes konfrontiert. Nach einem ermutigenden ersten Jahr mit drei Siegen stürzte Ferrari 2016 hinter Red Bull ab und war nur noch dritte Kraft. Einhergehend mit dem Rückschlag für Vettels Titel-Mission schien auch sein Nervenkostüm in dieser Saison relativ dünn zu sein. Beim dritten Saisonrennen in China kam es zum Torpedo-Zwischenfall mit Daniil Kvyat, der Vettel dazu veranlasste persönlich seine Beschwerde über den Russen bei Red Bull einzureichen.

Als Kvyat ihn wenige Wochen später in Russland in der ersten Kurve aus dem Rennen schoss, war Vettel wenig überraschend nicht gerade begeistert. Richtig rau wurde der Ton aber erst in der zweiten Saisonhälfte. Die Frustration über die ausbleibenden Erfolge schien mit jedem Rennen zu wachsen. Das ging so weit, dass Vettel seine Konkurrenten sogar schon im Training beleidigte. In Mexiko holte er zum Rundumschlag im Boxenfunk aus, betitelte Verstappen als Bastard, Alonso als Idiot und ging Rennleiter Charlie Whiting mit einem wenig charmanten "fuck off!" an.

Für die ausfallenden Worte gegenüber Whiting wurde eine Entschuldigung fällig. "Im Auto bist du sehr aufgeregt, die Emotionen gehen hoch und du sagst Dinge, die du vielleicht in einer normalen Situation nicht sagen würdest. Ich finde es nicht fair, da die ganze Zeit über jedes einzelne Wort zu richten", äußerte sich Vettel damals über sein Fehlverhalten. Für die FIA war die Angelegenheit damit erledigt. Entgleisungen von Super-Seb gab es danach in dieser Form nicht mehr zu hören.

Vettel motzte 2016 regelmäßig über die Konkurrenz, Foto: Sutton
Vettel motzte 2016 regelmäßig über die Konkurrenz, Foto: Sutton

Baku 2017: Vettels Revanchefoul an Hamilton

Mit der Saison 2017 erfüllte sich dann endlich Vettels Traum vom WM-Kampf mit Ferrari. Der SF70H konnte es mit Mercedes aufnehmen. Vom Saisonauftakt in Melbourne an lag Vettel in der WM vorne. Doch Lewis Hamilton und Mercedes schienen unter dem Strich immer noch die Nase vorne zu haben. Entspannen konnte sich Vettel an der WM-Spitze damit nicht. Nachdem Hamilton in Kanada mit einem Sieg Boden gutgemacht hatte, reiste die Formel 1 Ende Juni zum achten Saisonlauf nach Baku.

Dort waren die Silberpfeile von Beginn an der Favorit. Hamilton sicherte sich die Pole Position und führte das Rennen vom Start weg an. Wider Erwarten gelang es ihm jedoch nicht, sich an der Spitze abzusetzen. Stattdessen folgte ihm Vettel wie ein Schatten. Eine Konstellation, die einen ähnlich spannenden Schlagabtausch wie wenige Wochen zuvor in Barcelona versprach - bis die 20. Runde kam.

Durch eine Safety-Car-Phase war das Feld wieder zusammengerückt und Vettel lauerte auf seine Chance, beim Restart den Mercedes anzugreifen. Wenige Kurven vor der Wiederaufnahme des Rennens geschah es dann. Hamilton gab das Tempo vor, ließ am Ausgang von Turn 15 den Silberpfeil rollen, während Vettel zu glauben schien, dass der Konkurrent ausreißen will. Vettel fuhr Hamilton leicht ins Heck und verlor daraufhin die Kontrolle.

Nachdem er zunächst auf gleiche Höhe neben den Mercedes gefahren war und seinen Unmut mit wildem Gestikulieren zum Ausdruck gebracht hatte, zog Vettel rüber und fuhr Hamilton ins Auto. Seine Sicht der Dinge war, dass Hamilton ihn einem Bremstest unterzogen hatte. Bei seinem Revanchefoul wurde zwar keiner der beiden Boliden folgenschwer beschädigt, doch die Aktion alleine reichte, um die wohl größte Kontroverse seit Schumacher vs. Villeneuve 1997 auszulösen.

Der Moment, in dem Vettel Hamilton ins Heck fuhr, Foto: Formula 1/Screenshot
Der Moment, in dem Vettel Hamilton ins Heck fuhr, Foto: Formula 1/Screenshot

Hamilton hebt den Zeigefinger, Vettel hat spätes Einsehen

Hamilton verlor das Rennen letztendlich, da nach einer roten Flagge die Kopfstütze an seinem Mercedes nicht korrekt befestigt wurde und er für einen Reparaturstopp anhalten musste. Für Vettel blieb die sportliche Konsequenz eine Stop-and-Go-Strafe von zehn Sekunden. Die Diskussionen gingen jedoch erst nach dem Fallen der Zielflagge richtig los. Hamilton zeigte sich empört und erklärte: "Wir wissen, dass sich in schwierigen Zeiten das wahre Gesicht zeigt." Bis zu diesem Zeitpunkt war das Verhältnis zwischen den beiden WM-Rivalen von Respektsbekundungen und Shakehands geprägt.

Selbst nach harten Fights wie in Barcelona streuten sich Vettel und Hamilton Rosen. Letzterer war von der Aktion Vettels mehr als überrascht. Statt eine Schlammschlacht vom Zaun zu brechen, holte Hamilton den erhobenen Zeigefinger raus: "Viele Kinder schauen uns im Fernsehen zu und sehen einen vielfachen Weltmeister, von dem man denken sollte, dass er sich besser benehmen kann. Ich hoffe nicht, dass die Kids jetzt denken, dass man so fahren sollte. Das ist keine Antwort auf irgendeine Situation oder Problem."

Vettel stritt den Vorsatz seines Rammstoßes trotz aller Offensichtlichkeit ab. "Erklärt mir, wo ich gefährlich gefahren sein soll. Wir sind Männer hier, wir sind nicht im Kindergarten. Wir fuhren nebeneinander und hatten einen kleinen Kontakt. Aber ich bin nur daneben gefahren, um meine Hand zu heben", erklärte er damals. Erst später lenkte er ein: "In der Hitze des Gefechts habe ich dann überreagiert, und deshalb möchte ich mich bei Lewis direkt entschuldigen und auch bei all jenen Menschen, die sich das Rennen angesehen haben."

Formel 1 2018: Brennpunkte vor dem Aserbaidschan GP (06:42 Min.)

Vettel kommt mit Entschuldigung und milder Strafe von der FIA davon

Für die FIA war auch dieser Fall mit einer Entschuldigung seitens Vettel abgeschlossen - fast. Zwar hatte Baku 2017 für Vettel sportlich keine weiteren Folgen, doch die Offiziellen ließen sich etwas anderes einfallen. Vettel durfte bis zum Jahresende nicht mehr bei der FIA Road Safety Kampagne mitwirken und sollte im Zeitraum von zwölf Monaten außerdem vor Nachwuchspiloten aus Formel 4, Formel 3 und Formel 2 über korrektes Verhalten auf der Rennstrecke referieren.

Nach Baku zeigte sich Vettel im und außerhalb des Cockpits ähnlich geläutert wie Ende 2016. Das Verhältnis zu Hamilton normalisierte sich schnell wieder. Nachdem Hamilton in Bahrain 2018 mit Verstappen aneinandergeraten war und den Niederländer als Schwachkopf bezeichnet hatte, ergriff Vettel sogar Partei für den Rivalen - weiß er doch genau wie es sich anfühlt, wenn die in der Hitze des Gefechts getätigten Aussagen auf die Goldwaage gelegt werden. Dass Vettel auf die Kollision mit Verstappen in China so entspannt reagierte, verwunderte dennoch.

"Der Tag wird kommen, wo ihm jemand reinfahren wird, damit er endlich versteht, dass die Strecke für uns alle da ist", hatte Alonso zum Beispiel nach einer Meinungsverschiedenheit mit Vettel 2016 in Brasilien prophezeit. In Shanghai lag er Spanier damit falsch. Ob Vettel bei einer ähnlichen Situation mit Verstappen in der heißen Phase des WM-Kampfs im Herbst immer noch so reagieren würde, ist fraglich. Für das eine oder andere böse Worte würde würde ihn dann aber wohl niemand verurteilen.