Formel 1 unter Schock: Schon als am Samstagmorgen des Brasilien GP 2017 die Nachricht von einem erfolgreichen Raubüberfall auf Teammitglieder von Mercedes am vorherigen Abend die Runde machte, war die Aufregung in Sao Paulo groß. Immerhin kam es zu keinerlei Verletzungen, doch der Schock saß bei einigen Mitarbeitern angesichts vorgehaltener Schusswaffen tief. "Es war wie im Wilden Westen", so Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff bei Sky. " Das Team ist ziemlich mitgenommen, vor allem diejenigen, denen Waffen an den Kopf gehalten wurden."

Doch das war es noch nicht einmal: Auch Verantwortliche der FIA und Williams-Mitarbeiter waren von Kriminellen bedroht worden, kamen allerdings glimpflicher davon als die Mercedes-Crew. Die Folge: FIA und Organisatoren versprachen am Abend eine massiv verstärkte Polizeipräsenz für das verbleibende Wochenende, mahnten zudem zur besonderen Vorsicht. Wolff: "Als wir in der Früh hierher gefahren sind, war es wie im Bürgerkrieg, so viel Polizei stand auf den Straßen."

Mehr Polizei: Trotzdem häufen sich die Übergriffe

Nachhaltig durchschlagenden Erfolg brachte das jedoch nicht. Noch am selben Abend folgte der nächste Zwischenfall. Diesmal wurde ein Mini-Van des Sauber-Teams attackiert, diesmal gingen die Angreifer leer aus. Auch Strategie-Ingenieurin Ruth Buscombe mahnte, die Sicherheitstipps der FIA und Veranstalter keinesfalls auf die leichte Schulter zu nehmen. Diese umfassen etwa, außerhalb der Strecke nicht in Teamkleidung herumzulaufen und Formel-1-Parksticker zu entfernen.

Einen Tag später ging es weiter: Überfall auf eine Mechaniker-Gruppe von Pirelli. Nur dank des Einsatzes der eigenen Security des Reifenherstellers war eine Flucht der Überfall-Opfer möglich. Daraufhin zog Pirelli Konsequenzen, sagte für Dienstag und Mittwoch in Sao Paulo geplante Testfahrten mit McLaren wegen Sicherheitsbedenken ab.

Ist Sao Paulo für die Formel 1 noch tragbar?

Negativ-Schlagzeilen ohne Ende also für den Brasilien GP. Dabei hätte es eigentlich reichlich Potential für das genaue Gegenteil gegeben. Der Zuschauerzuspruch am Formel-1-Wochenende war immens. 141.218 Fans fanden ihren Weg ins Autodromo Jose Carlos Pace, um den letzten Heim-GP Felipe Massas und die neuen F1-Boliden 2017 zu erleben - die besten Zahlen seit sechs Jahren in Interlagos. Noch dazu wurde publik, dass die Zukunft der Strecke durch - oder trotz - Privatisierungen in Kürze vertraglich langfristig gesichert werden soll.

Doch spätestens seit den Vorkommnissen dieses Wochenendes steht nun eher das Gegenteil im Raum. Zumindest kommt man kaum um die Frage herum, ob der Brasilien GP noch eine Zukunft verdient hat bzw. er in Sao Paulo, direkt am Rande der Favelas, mitten im Armenviertel, wirklich am richtigen Ort ausgetragen wird oder, ob Destinationen wie Rio de Janeiro und Florianopolis nicht doch besser geeignet wären. Noch läuft der Vertrag mit Interlagos bis 2020. Doch hat die Strecke angesichts der heiklen Sicherheitsfrage eine F1-Zukunft darüber hinaus?

Immerhin waren die Vorfälle des 2017er Grand Prix' nicht die ersten in Brasilien. Schon 2010 wurde dort Jenson Button Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls, kam mit dem Schock und einem Sachschaden davon. Spätestens seitdem wird auch der letzte Fahrer ausschließlich in gepanzerten Fahrzeugen an die Strecke gebracht.

Felipe Massa beschämt, verärgert, schockiert

Doch 2017 scheinen die Vorfälle plötzlich einen ganz neuen Level erreicht zu haben. Der Druck auf die Formel 1 und Organisatoren, es in Zukunft besser zu machen steigt entsprechend drastisch. Aber wie? Einfach nur durch noch mehr Polizei-Präsenz? Zumindest sorgt das in Mexiko weitestgehend für Ruhe. Im Vorjahr gab es bei dem ebenfalls in Sachen Sicherheit bedenklichen Lateinamerika-Rennen zwar auch einen Zwischenfall, auch dort bei Mercedes, doch wirkt der Bereich rund um die Strecke dort doch sehr viel besser bewacht als in Sao Paulo - zumal Berichten aus dem Paddock in Brasilien zufolge die Polizei-Präsenz schon kurz nach Rennende schnell wieder heruntergefahren wurde - zu schnell, wie der Pirelli-Vorfall zeigt.

Doch packt mehr Sicherheitspersonal allein das Übel nicht an der Wurzel. Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass mit der Formel 1 Jahr für Jahr der große Reichtum der ersten Welt mitten im Armenviertel zum großen Showlaufen auftritt. Deshalb appelliert Lokalmatador Felipe Massa auch an die Politik, die Situation im Land insgesamt zu verbessern. Massa, selbst Kind der Metropole Sao Paulo, zeigte sich angesichts des Ausmaßes an Kriminalität rund um sein Formel-1-Heimrennen schockiert, verärgert und schämte sich für seine Landsleute.

Sao Paulo wehrt sich: Das erste Mal so heftig

"Ohne Zweifel. Ich denke so geht es uns allen. Wir erwarten immer das Beste für unser Land - ein sicheres Land, in dem wir unsere Kinder groß ziehen können, gute Krankenhäuser haben. Und wenn wir dann von Problemen wie diesen hören ist das einfach sehr traurig. Denn wenn du Brasilianer bist fühlst du dich als Teil des Problems. Also ist die Traurigkeit schon groß. Nicht nur für die Leute, die gekommen sind und da waren, sondern auch für die, die davon hören, und Brasilianer sind", sagte Massa, gibt sich aber zuversichtlich: "Wir können das für die Zukunft verändern."

Formel 1 Brasilien 2017: Renn-Highlights in 60 Sekunden: (01:07 Min.)

Aussagen, die Sao Paulos Bürgermeister Joao Doria, nicht teilt. "Ich mag ihn ja sehr, aber solche Vorfälle gab es schon an anderen Kursen auf der Welt. Was passiert ist, kann nicht gerechtfertigt werden, aber ich habe schon schlimmere Fälle an Rennstrecken der ersten Welt gesehen. Niemand hat behauptet, sich für sein Land zu schämen", kommentierte Doria internationalen Medien zufolge Massas Kommentare. "Es war das erste Mal, dass wir so einen Fall hatten - eine Risikosituation. Daraus lernt man." Außerdem habe man eine klare Haltung gezeigt.

Formel-1-Bosse sehen Verantwortung allein bei Organisatoren

Genau die fordern im F1-Paddock gleich einige. Vor allem aber Verbesserungen für die Zukunft. "Wir müssen die Sicherheit für die Teams verbessern. Was dieses Jahr passiert ist, ist ganz klar inakzeptabel", mahnte Ross Brawn schon vor dem Rennstart bei Sky. In der Verantwortung sehen die F1-Eigner jedoch nicht sich selbst, sondern vielmehr die Organisatoren des Grand Prix. "Wir sind nur der kommerzielle Rechtinhaber. Wir verkaufen diese Rechte an die lokalen Promoter und die Sicherheit an der Strecke ist deren Verantwortung", ließ ein Sprecher wissen.

Diese Einschätzung teilt nicht jeder. Der Weltmeister etwa nimmt im Grunde jeden in die Pflicht. "Die Formel 1 und die Teams müssen mehr machen, es gibt keine Ausreden. Hoffentlich sieht auch die Regierung dies als Möglichkeit sich anzuschauen, wie man so etwas stoppen kann. Ich kenne die Kriminalitätsrate hier nicht, ob sie sich verbessert", sagte Lewis Hamilton. "Aber ich denke, dass an diesem Wochenende mehr als je zuvor herausgekommen ist, dass es sich hier um ein Problem handelt."

Hamilton: Brasilien muss bleiben, aber ...

Brasilien aus dem F1-Rennkalender streichen will der Mercedes-Fahrer hingegen keineswegs - wegen der unfassbar leidenschaftlichen Fans. "Ich denke auf jeden Fall nicht, dass wir nach diesen negativen Vorkommnissen weg bleiben sollten", sagte Hamilton. "Wir sollten stattdessen eine Lösung finden und diese Gelegenheit nutzen, um es zu verbessern. Ich denke, dass Mexiko besser aufgestellt ist, selbst bei den Hotels. Ich hoffe, dass wir so etwas auch hier im nächsten Jahr erreichen können."