In der Formel 1 hält 2017 spätestens seit Ende der Sommerpause zunehmend Chaos um die Startaufstellung ein. Der Grund: Zahllose Strafversetzungen gegen diverse Fahrer wegen zu vieler Wechsel von Power-Unit-Elementen oder eines vorzeitigen Getriebetauschs. In Spa wurden fünf Fahrer - das entspricht einem Viertel des Starterfeldes - aus technischen Gründen im Grid nach hinten versetzt. In Summe 150 Plätze Strafen ergaben sich in Monza.

Formel-1-Chaos in Monza: Neun Technik-Gridstrafen

Am gerade vergangenen GP-Wochenende in Monza waren es am Sonntag sogar satte neun Fahrer. Darunter auch die beiden Red-Bull-Piloten, im Regen-Qualifying noch Zweiter und Dritter. Die Folge: Am Rennsonntag starteten gerade einmal vier Fahrer auf der Position, auf der sie sich auch qualifiziert (oder im Fall Grosjeans nicht qualifiziert) hatten. Und das erst nach unzähligen Neusortierungen - insgesamt gab es sogar elf separate Informationen über Strafversetzungen. Noch am Sonntagmorgen hagelte es Strafen. Groß war die Verwirrung. Nicht bei den Fans und einigen Kollegen im Media Center, sondern auch bei dem ein oder anderen F1-Team selbst.

"Auch für uns ist das schwer zu verstehen. Selbst im Grid haben wir noch schauen müssen, ob wir von 12 oder 13 starten, weil Perez eine Strafe kassiert hat - aber vor oder nach jemand anderem", berichtet Christian Horner. Angesichts dieses Wirrwarrs fordert Red Bulls Teamchef, das System für die Zukunft zumindest einmal grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. "Es ist so verwirrend ... Da muss man sich genau anschauen, ob es einen besseren Weg gibt, einen Hersteller oder Mitbewerber zu bestrafen, als mit dem Grid", sagt Horner.

Kraft verleiht der Brite seiner Forderung mit einer schwarzen Prognose für die nahe Zukunft. "Ich denke, dass es noch schlimmer wird", fürchtet Horner. Noch dazu warnt der Brite davor, die Grid-Strafen könnten am Ende sogar das Zünglein an der Waage im WM-Kampf zwischen Lewis Hamilton und Sebastian Vettel, Ferrari und Mercedes, ausmachen. Horner: "Die Strafen von jetzt bis zum Ende des Jahres könnten eine kritische Rolle in der Meisterschaft spielen. Und es wäre schade, wenn die WM durch Grid-Strafen entschieden wird."

Mercedes vs. Ferrari: Grid-Strafen als WM-Entscheider?

Mit Blick auf die bereits genutzten Power-Unit-Komponenten erscheint diese Einschätzung umso naheliegender. Mercedes operiert durch sein Upgrade in Spa mit beiden Boliden gleich bei drei Bauteilen am Limit (ICE, TC, MGU-H), Red Bull ist längst darüber hinaus. Ferrari stieß bereits im ersten Saisondrittel an das Limit in Sachen Turboladern, muss hoffen mit den vier wohl nicht geschlossen astreinen Turbos die noch ausstehenden sieben WM-Läufe über die Bühne zu bringen.

Alte Elemente dürfen zwar jederzeit nach Belieben wiederverwendet werden, doch irgendwann werden sich die Rivalen schon die Frage stellen müssen, wie groß der Nachteil ausfällt, bereits überstrapazierte Teile nur noch durchhalten zu lassen. Mit einer Strafe eine komplett frische Power Unit zu erkaufen - und womöglich auch noch ein Performance-Upgrade zu bringen - könnte sich als die gangbarere Variante herauskristallisieren. Die Folge wären erneut potentiell chaotische Verschiebungen im Grid, ist doch davon auszugehen, dass auch die Teams im Mittelfeld zunehmend unter Wechsel-Druck geraten werden, insbesondere Haas, Toro Rosso, Renault und Sauber, von McLaren gar nicht erst zu reden.

Horner: Thema muss jetzt ganz oben auf die Agenda

Auch mittelfristig schwant Horner Böses "Dieser Motor hat seit seiner Einführung nichts Positives für die Formel 1 bewirkt", wettert der Brite. "Was mir Sorgen macht: Nächstes Jahr gehen wir auf drei Motoren mit noch mehr Rennen." Daher sei das Thema unbedingt dringend in der Strategiegruppe zu diskutieren. Horner: "Das sollte die Nummer eins auf der Agenda fürs nächste Strategy Meeting sein. Ich wollte es bei einem Meeting ändern, bekam aber keine Unterstützung. Ich hoffe, dass es jetzt vielleicht anders ist, da mehr Teams Strafen kassieren."

Übersicht der bereits genutzten PU-Komponenten

Fett = am/über dem Limit

ICETCMGU-HMGU-KESCE
Mercedes
Lewis Hamilton444322
Valtteri Bottas444322
Red Bull
Daniel Ricciardo556322
Max Verstappen555233
Ferrari
Sebastian Vettel343333
Kimi Räikkönen343333

Kostenfrage: Warum Gridstrafen nicht einfach abgeschafft werden

Doch einen Masterplan, was genau zu ändern ist, hat auch Horner nicht in der Schublade. Zu diffizil sind die Hintergründe. "Man muss es sich vorsichtig anschauen. Natürlich muss die Strafe abschreckend sein, weil der einzige Grund der Motoren-Einschränkungen Kosteneinsparungen waren", erinnert Horner. "Es spart aber keine Kosten, weil die Motoren sowieso eine Weltreise machen. Vielleicht brauchen wir eine bessere Balance, vielleicht sind fünf Motoren besser als drei", so Horners vorsichtiger Vorschlag.

Ähnlich diplomatisch drückt sich Horners Haas-Pendant aus. "Wir haben wir dieses System aus einem guten Grund eingeführt: Um Kontrolle über die Kosten zu haben. Denn mit diesem System willst du nicht wirklich bestraft werden. Wenn du nur eine Grid-Position bekommst werden die Leute ... Dann würden die großen Teams nur noch weiter wegziehen. Denn sie würden alles jedes Mal wechseln, das völlig ausweiten und so nur noch schneller sein", sagt Günther Steiner.

Steiner fürchtet: Ohne echte Strafen riesiger Vorteil für Top-Teams

Bestes Beispiel für den Haas-Teamchef: Red Bull in Monza. Steiner: "Schau' dir Ricciardo an. Wie viele Plätze hat er bekommen? 20? 25? Er ist trotzdem noch Vierter geworden. Also: Die großen Teams können es schon so wieder gutmachen. Wenn sie sich dann gar nicht mehr um die Grid-Strafen kümmern müssten, weil sie es sowieso sofort wieder so schnell gutmachen können, dann wird es einfach teuer. Das muss man bedenken. Es zu ändern nur um es zu ändern, das ist es nicht wert."

Ähnliche Töne aus dem Lager von Force India. "Wenn wir unbegrenzt viel Geld hätten, dann würde ich zustimmen (einer Abschaffung der Grid-Strafen, Anm. d. Red.). Dann kann jeder ausgeben was er möchte. Dann ist es eine ganz andere Angelegenheit. Aber du kannst eben nicht sagen, dass wir die Kosten unter Kontrolle halten müssen, aber dieses Zeug (die Strafen, Anm. d. Red.) nicht haben, denn diese beiden Statements widersprechen sich", sagt Otmar Szafnauer.

Einem Wechsel verschließt sich der FI-Geschäftsführer jedoch nicht: "Wenn es einen besseren Weg geben würde, es zu machen, dann bin ich dabei. Aber als die Regeln geschrieben wurden, war das der beste Weg." Technikchef Andy Green indessen versteht die ganze Aufregung um das große Wirrwarr nicht - und verteidigt die Regelung mit einer flammenden Rede.

Force India: Grid-Strafen liefern tolle Show

Green: "Was ist denn falsch daran, diese Grid-Strafen zu haben und das Grid durchzumischen? Wir sprechen doch immer davon, wie wir die Show verbessern können. Und das hatten wir doch gerade - aber jetzt beschwert sich jeder über das durchgemischte Grid. Denkt nochmal nach! Was wollt ihr denn? Wer wurde Fahrer des Tages? Ricciardo! Wo startete er? Fast ganz hinten mit Grid-Strafen. Es war die beste Fahrt des Nachmittags. Wer sagt mir, dass das falsch ist? Ich denke nicht!"

Steiner indes zweifelt zudem am Verwirrungsfaktor der unzähligen Strafen. "Es funktioniert ja zumindest und die Leute gewöhnen sich langsam daran. Warum sollten wir es dann ändern? Sie haben schon eine Ahnung davon, wie das abläuft. Wenn wir das jetzt ändern, verwirren wir sie nur noch mehr. Wenn wir es ändern dann nur für etwas wirklich Besseres, um ehrlich zu sein. Es wäre schön, herauszufinden wie sehr sie es tatsächlich verstehen", sagt der Tiroler.

Dennoch: Für befremdlich hält es auch Steiner, wenn plötzlich das sportliche Ergebnis des halben Felds durch Strafen verändert wird. "Es ist sehr seltsam wie die Strafen ... nicht seltsam an sich, aber für einen Sport wie die Strafen gegeben werden", sagt Steiner. Eine bessere Idee könne jedoch auch er aus dem Stegreif nicht vortragen.

Punktabzug fürs Team? Skurrile Nebenwirkungen möglich

Völlig neu ist das Thema der Sinnhaftigkeit von Grid-Strafen indessen nicht. Bereits vor und nach dem Österreich GP wurde insbesondere angesichts zuvor weiterer Honda-Strafen und Hamiltons Getriebe-Strafe kontrovers diskutiert. Tenor damals: Nicht den Fahrer bestrafen, sondern das Team - etwa durch Abzug von Konstrukteurspunkten.

"Die Kontroversen um die Schiedsrichter füllen die Zeitungen und lassen uns am Montag in der Bar drüber diskutieren. In der F1 brauchen wir aber gewisse Freiheiten, die Fahrer sollten nicht zu sehr bestraft werden wegen technischen Problemen am Auto", sagte Toto Wolff. Doch auch der Mercedes' Motorsportchef verweis bereits damals auf etwas kompliziertere Gesamtbild, Stichwort Kostenreduktion.

Steiner hält von einem Schwenk zu Punkt-Sanktionen für die Teams jedoch wenig. "Du könntest immer noch damit spielen, um die Fahrer-WM zu gewinnen. Denn was ist wichtiger? Die Konstrukteurs-WM oder die Fahrer-WM? Der eine sieht es so, der andere so" meint Steiner. Das könne dann zu völlig skurrilen Auswüchsen führen.

Steiner: "Wenn du das machst fokussiert sich vielleicht jemand nur darauf, die Fahrer-WM zu gewinnen und baut jedes Mal einen neuen Motor ein. Dann wird der Hersteller Letzter, aber der Fahrer gewinnt. Dann hast du zwei Meisterschaften. Das macht es kein Stück besser."

Fahrer unschuldig bestraft? Nicht für Steiner

Auch, dass mit dem Fahrer das argloseste Element in der Kette bestraft werde, lässt Steiner nicht gelten. Immerhin seien die Regeln für alle gleich, jeder kenne sie und Ursache der Strafe sei einfach ein eigener Fehler (des Teams).

Eine durchaus spannende Aussage von dem Teamchef eines Kundenteams. Geht bei Haas das Getriebe oder die Power Unit kaputt, so ist es eigentlich kein Haas-Fehler, kommen diese Komponenten doch von Ferrari. Steiner sieht das anders. "Doch, dann hätten wir selbst etwas falsch gemacht: Wir haben beim falschen Zulieferer unterschrieben!", so Steiner auf Nachfrage von Motorsport-Magazin.com.

Was bei den Journalisten-Kollegen für einige Lacher sorgt, meint der Teamchef jedoch durchaus ernst. "Es klingt vielleicht nur lustig, ist es auch. Aber es war deine Wahl, unsere eigene Wahl. Wenn du strategisch falsche Entscheidungen triffst, wirst du dafür auch bestraft", erklärt Steiner. "Wenn du aus einem gewissen Grund zu einem Hersteller gehst, weil dir die Preise gefallen oder dies oder das oder du gesponsert wirst, dann kann das kommen", ergänzt Steiner, in diesem Fall offenbar mit McLaren und Honda im Hinterkopf.