Während Valtteri Bottas seinen Silberpfeil am ersten Ungarn-Testtag im Auftrag von Pirelli um den Hungaroring scheuchte, nahm im zweiten F1 W08 ein ganz neues Gesicht Platz: Nachwuchspilot George Russell, der seit Januar 2017 zum Mercedes-Kader gehört, durfte erstmals Formel-1-Luft schnuppern. Mit Platz vier in der Zeitenliste schlug sich der Youngster beachtlich. Dank ausgiebigen Vorbereitungen kam für ihn beinahe nichts unerwartet.

"Mein Hintern ist etwas wund", erklärt der 19-Jährige, der an seinem ersten Tag hinter dem Lenkrad eines Formel-1-Boliden bei brütender Hitze 119 Runden nahezu fehlerfrei abspulte. Die Schmerzen am Gesäß kamen aber nicht etwa von der großen Herausforderung, sondern von einem ergonomischen Detail. "Der Sitz war etwas zu eng für mich", fügt er an. Abgesehen davon überrascht der Leader der GP3-Gesamtwertung mit äußerster Abgeklärtheit.

Die ganz große Nervosität überkam ihn vor seinem großen Tag laut eigenen Angaben zumindest nicht. "Ich habe überraschend gut geschlafen. Ich wusste seit langer Zeit, dass dieser Tag kommen würde. Ich war sehr gut vorbereitet, professionell eingestellt und kam hierhin um den bestmöglichen Job für das Team zu machen", so Russell, der am Ende des Tages mi einer Rundenzeit von 1:19.231 Minuten lediglich eine halbe Sekunde auf Stammpilot Bottas verlor.

Angesichts dieses doch recht überschaubaren Rückstandes war der Brite mit seiner Leistung durchaus zufrieden. "Ich bin ziemlich glücklich mit meiner Performance. Ich hatte ein ähnliches Setup wie Valtteri und wir hatten dieselben Spritmengen an Bord", gibt er stolz zu Protokoll. "Die halbe Sekunde Rückstand ist in etwa das, was ich erwartet hatte." Außerdem sei der Teamkollege auf dem Hungaroring am vergangenen Wochenende schon fleißig gewesen.

"Er hatte hier gerade erst ein Rennwochenende und hat im Qualifying außerdem Lewis geschlagen. Er kennt den Weg um den Kurs und ist natürlich sehr schnell", sagt Russell, der bis auf einen Dreher in Turn 2 fehlerfrei blieb. Der vermeintliche Fahrfehler war jedoch keineswegs ein Resultat von Selbstüberschätzung, wie er erklärt.

Formel-1-Bolide fährt sich wie im Simulator

"Ich hatte eine halbe Runde zuvor in Kurve 5 einen Rutscher und habe dann im Funk gesagt, dass sich etwas nicht richtig anfühlt. Dann fuhr ich in Kurve 2 und habe sofort das Heck verloren", beschreibt er die Situation, die sich im Nachhinein als höhere Gewalt herausstellte: "Wir haben danach in die Daten geschaut und gesehen, dass die Windrichtung sowie die Windstärke sich stark verändert hatten. Ich denke, es war eine Windböe die uns überrascht hat."

Russell kam bei seinem Ausritt allerdings ohne Konsequenzen davon und konnte sein Programm nach der Rückkehr an die Box und einer kurzen Untersuchung des Vorfalls wieder aufnehmen. "Es waren hauptsächlich Longruns mit höheren Benzinmengen, quasi wie eine Rennsimulation", beschreibt er seinen Arbeitstag. "Jeder Run ging über zehn gezeitete Runden. Dabei wurde nur der Verschleiß der Reifen überprüft und geschaut, wie er sich verhält."

Der Lernprozess ging ihm dabei spürbar einfach von der Hand, wie er im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com erklärt: "Ich bekam mit jeder Runde mehr Vertrauen. Früher ans Gas, später auf die Bremse. So kam bei mir nach und nach das Selbstvertrauen." Große Umstellungsprobleme hatte er dank ausgiebiger Simulator-Sessions offenbar keine. Es ging hauptsächlich darum, "in das echte Auto zu steigen und die Unterschiede zu verstehen."

Besagte Unterschiede beschränkten sich für ihn lediglich auf die Gesetzte der Physik. "Um ehrlich zu sein sind die paar großen Unterschiede die Fliehkräfte und die Belastungen in den Kurven, die kein Simulator auf der Welt nachahmen kann. Aber was den Speed in den Kurven und die Balance des Autos angeht, haben die Jungs in Brackley ein sehr gutes Modell im Simulator", sagt Russell.

Russell: Bremsen in der Formel 1 unglaublich

Doch so ganz eiskalt ließ die erste Ausfahrt im F1-Boliden den jungen Briten natürlich auch nicht. "Natürlich war es unglaublich. Ich hatte mich lange Zeit auf diesen Tag gefreut. Es ist der Traum eines jeden jungen Fahrers, so ein Auto zu fahren", so Russell, der von dem Erlebnis Königsklasse sofort beeindruckt war: "Sobald ich auf der Strecke war, spürte ich sofort wie viel Grip und Downforce dieses Gerät hat."

Richtig bewusst wurde es ihm erst, als er den Vergleich mit dem GP3-Boliden zog, den er am vergangenen Wochenende im Rahmen der Formel 1 noch auf dem Hungaroring bewegt hatte. "Der größte Unterschied war erstmal die Servolenkung in einem F1-Auto", erklärt er. Worauf ihn dann wirklich nichts vorbereiten konnte, war nicht etwa die Leistung der Power Units: "Den Speed auf der Geraden habe ich natürlich erwartet, wie es jeder tun würde. Genauso den Anpressdruck in den Kurven."

Was ihn wirklich vom Hocker riss, war die Verzögerung im Mercedes F1 W08. "Ich glaube, niemand versteht wirklich, was für eine Power diese Maschinen auf der Bremse haben", so Russell, der aus der GP3 etwas ganz anders gewohnt ist: "In der GP3 fahren wir Kurve 1 mit etwa 270 km/h an und bremsen beim 100-Meter-Schild. Heute bin ich dort mit 300 km/h angekommen und habe 25 Meter später gebremst. Es ist unglaublich, aber ich bin schnell damit zurechtgekommen."