Wer hat Schuld am Reifen-Desaster?: (04:25 Min.)

Es ist eine beinahe unfassbare Geschichte: Als der Großbritannien GP eigentlich schon gelaufen scheint, geht es richtig rund: Zunächst gab Kimi Räikkönens Reifen auf Platz zwei liegend drei Runden vor Ende des Rennens den Geist auf. Vorne links lösten sich einzelne Fasern des Pirelli-Pneus, ähnlich wie bei den Reifenschäden 2015 in Spa. Doch Räikkönen konnte sich noch an die Box retten, ehe der Reifen komplett auseinanderflog.

Eine Runde später ereilte Ferrari-Teamkollege Sebastian Vettel fast exakt das gleiche Schicksal. Auch sein linker Vorderreifen ging kaputt - an der exakt gleichen Stelle. Allerdings hatte Vettel weniger Glück: Sein Reifen löste sich fast gänzlich auf, er musste fast eine komplette Runde auf drei Reifen zurück an die Box fahren. Vettel verlor den soeben erlangten dritten Platz wieder und wurde am Ende Siebter. Räikkönen kam immerhin noch auf Rang drei ins Ziel.

Nun rätselt die Formel-1-Welt: Ist Pirelli schuld an den Reifenschäden oder Ferrari? Ausgerechnet zwei Autos eines Teams, ausgerechnet eine Runde auseinander. Für Ferrari-Teamchef Maurizio Arrivabene ist die Schuldfrage klar: "Auch wenn die Gründe offensichtlich sind, sich über den Verlust der Plätze zu beschweren, ist nicht Ferraris Stil."

In Spa 2015 kostete Vettel ein Reifenschaden Platz drei, Foto: Sutton
In Spa 2015 kostete Vettel ein Reifenschaden Platz drei, Foto: Sutton

Auch Sebastian Vettel wirkte vergleichsweise gehalten im Vergleich zu seinem Reifenschaden in Spa vor zwei Jahren. Doch auch für ihn ist klar, dass Ferrari keine Schuld trifft: "Es war keine Sternstunde der Reifen. Im Endeffekt steckt man da nicht drin. Da kann man nicht so viel machen. Es ist nicht so, als hätte es sich erahnen lassen. Im Nachhinein ist es einfach zu sagen, man hätte an die Box fahren sollen. Aber dass der Reifen dann in die Luft fliegt, das konnte man nicht wissen."

Vollständige Schadensanalyse erst in Mailand

Eine genaue Analyse gibt es von Reifenlieferant Pirelli noch nicht. Die wird es erst in der Woche nach dem GP geben, weil bestimmte Faktoren nur in der Fabrik in Mailand analysiert werden können. Doch die erste Analyse ist überraschend: Die beiden Reifenschäden von Vettel und Räikkönen sind nicht identisch.

Während bei Vettel die Karkasse beschädigt wurde und der Reifen die komplette Luft verlor, löste sich bei Räikkönen nur ein kleines Teil, die Luft blieb im Reifen. "Es sieht nach unterschiedlichen Schäden aus, aber die Gründe dafür kennen wir noch nicht", sagte Pirellis Formel-1-Einsatzleiter Mario Isola nach dem Rennen.

Auch äußerlich lassen sich Unterschiede erkennen: Während sich bei Räikkönen ein Streifen links der Mitte löste, begann das Problem bei Vettels Reifen eher an der rechten Schulter.

Für die genaue Analyse ist Pirelli auch auf die Daten von Ferrari angewiesen. Sebastian Vettel hatte wenige Runden vor seinem Problem einen größeren Verbremser, das linke Vorderrad stand extrem lange. "Ich glaube aber nicht, dass der Schaden daher kommt", meint Isola. "Aber wir brauchen die genauen Daten von Ferrari, dann sehen wir, ob es irgendwelche Vibrationen gab oder etwas anderes."

Blistering wohl nicht schuld an Schäden

Von einem Blistering-Problem geht Pirelli derzeit nicht aus. Schon in Österreich war an einigen Reifen sogenanntes Blistering zu sehen, auch in Silverstone zeigte sich dieses Phänomen. Beim Blistering brechen Gummistücke aus der Lauffläche, im schlimmsten Fall gehen die aufgebrochenen Flächen bis zur Karkasse. "Wir haben aber nur oberflächliches Blistering gesehen", erklärte Isola noch am Freitag.

Blistering entsteht durch zu hohe mechanische Beanspruchung und Überhitzung. Zwischen Karkasse und Lauffläche bilden sich Blasen, die dafür sorgen, dass an der Oberfläche Gummistücke herausbrechen.

Pirelli änderte Reifenmischungen auf Drängen der Fahrer

Der linke Vorderreifen wird in Silverstone extrem beansprucht, die lateralen Kräfte sind in den schnellen Passagen enorm. Mit den diesjährigen Autos werden die höchsten Kurvengeschwindigkeiten in der Geschichte erreicht. Die schnellste Rennrunde war in diesem Jahr knapp fünf Sekunden schneller als 2016 - der größte Unterschied in dieser Saison bislang. Und Ferrari war am Kurvenscheitelpunkt offenbar sogar noch schneller als Mercedes. 10 Stundenkilometer will Vettel schneller durch Copse gefahren sein als Hamilton.

Pirelli wusste um die hohen Kräfte, änderte aber auf Drängen der Fahrer die eingesetzten Mischungen, ging eine Stufe weicher. Ob der Schaden damit zusammenhängt, ist ebenfalls noch unklar. Allerdings ging bei Vettel und Räikkönen jeweils der Soft-Reifen ein, nicht der Supersoft.

Vettel und die Reifen: In Österreich 2016 nahm ihn ein Reifenschaden aus dem Rennen, Foto: Sutton
Vettel und die Reifen: In Österreich 2016 nahm ihn ein Reifenschaden aus dem Rennen, Foto: Sutton

Pikant ist das Reifenalter: Vettel kam, um Max Verstappen mit einem Undercut zu überholen, früher an die Box. Als Vettels Reifen versagte, hatte er bereits 31 Runden auf dem Buckel. Räikkönens Reifen allerdings waren noch jünger, gingen schon nach 25 Runden in die Knie.

"Im Endeffekt kriegen wir gesagt, dass der Reifen hält, dann hält er nicht", ärgerte sich Vettel. Pirelli allerdings widerspricht: "In diesem Jahr bekommen die Teams keine Vorgaben mehr von uns, wie lange jeder Reifen halten sollte. Sie bekommen die Daten vom Freitag, aber sie bekommen keine Rundenzahl mehr."

Bottas' Soft-Reifen halten deutlich länger

Bei Valtteri Bottas hielt der Soft-Reifen im ersten Stint sogar 36 Runden. Der Mercedes-Pilot startete auf den Soft, fuhr also mit schwerem Auto länger als Vettel mit leichtem. "Ich habe aber die Reifen immer gemanagt, das war auch nötig. Hier überhitzen sie sehr schnell. Ferrari musste sehr viel pushen." In der Tat hatten die Ferrari-Piloten nicht viel Raum, ihre Pneus zu schonen. Erst verteidigte sich Vettel mit Händen und Füßen gegen Bottas, dann Räikkönen.

Die Frage ist: Hätte Ferrari die Schäden vorhersehen können? Vettel beklagte sich kurz vor seinem Reifenschaden über Probleme mit der Vorderachse. Auch Max Verstappen hatte Probleme mit den Vorderreifen. "Weil er den Frontflügel beim Stopp nicht verstellt hat, Ricciardo schon", erklärt Dr. Helmut Marko. Verstappen kam unmittelbar nach Räikkönens Reifenschaden an die Box.

Allerdings konnte sich Red Bull den Stopp erlauben, der Niederländer verlor dadurch keine Position. Räikkönen hätte seine Position an Bottas verloren, Vettel seine an Verstappen - wenn der nicht gestoppt hätte.

Hätte Ferrari die Schäden vorhersehen können?

Beim Blick auf Vettels Rundenzeiten könnte man meinen, dass ein Reifenschaden absehbar war. Die Zeiten gingen überproportional nach oben. Allerdings sind dafür nicht unbedingt die Reifen schuld. Im Zweikampf mit Bottas verlor Vettel viel Zeit. "Und als Bottas vorbei war, haben wir alles komplett zurückgeschraubt, ich habe komplett Gas rausgenommen", erklärte Vettel Motorsport-Magazin.com. "Es gab keinen Grund mehr, schnell zu fahren." Ohne die genauen Ferrari-Daten lässt sich nicht feststellen, wie viel Zeitverlust von den Reifen kam, wie viel vom Tempo rausnehmen.

Bei Räikkönen, der sich nicht zurücklehnen konnte, weil Bottas hinter ihm her war, stiegen die Rundenzeiten zwar an, allerdings nicht so gewaltig, dass man ein baldiges Ende des Reifenlebens erwarten hätte können. Bei Verstappen war der sogenannte Drop-off deutlich größer, allerdings auch nicht extrem besorgniserregend.