Vollarlarm in der Formel 1. Nach Sebastian Vettels Rammstoß gegen Lewis Hamilton beim Aserbaidschan GP 2017 in Baku überschlugen sich die Ereignisse und Meldungen geradeso. Absicht oder nicht? (Welche) Strafe für den Ferrari-Piloten? Brake-Testing? Muss auch der Mercedes-Star bestraft werden? Wie geht es jetzt weiter? Droht Vettel ein Nachspiel?

Motorsport-Magazin.com verschafft allen, die nicht mehr durchblicken oder etwas verpasst haben, kompakt den Überblick. Das sind die zehn wichtigsten Fragen und Antworten zum Baku-Eklat:

Was ist überhaupt passiert?

Es geschah in Runde 20 das Aserbaidschan GP. Lewis Hamilton führte das Feld vor dem Re-Start nach einer zweiten Safety-Car-Phase in Baku an, verlangsamte gegen Ende der Runde das Feld, um ausreichend Abstand zum Safety Car zu gewinnen. Offenbar so stark, dass Sebastian Vettel völlig überrascht war, dem Briten ins Heck krachte. Allein das wäre schon Nachricht genug gewesen, doch dann folgte der Eklat: Vettel verlor kurz die Nerven, zuckte mit dem Ferrari nach links und fuhr direkt neben den Mercedes von Hamilton. Wild gestikulierend zeigte Vettel Hamilton mit der linken Hand, was er von dessen Aktion hielt, zog dabei jedoch mit dem ganzen Auto nach rechts und krachte in den Silberpfeil.

Welche direkten Folgen hatte die Kollision?

Zunächst beschädigte sich Vettel beim Krachen ins Heck des Briten den Frontflügel, verlor nach Re-Start weitere Teile, was - mitunter - zur wenig später folgenden Rennunterbrechung führen sollte. Dort konnte Ferrari reparieren, genau Mercedes das Heck Hamiltons' Boliden - und dessen Seite nach dem seitlichen Rammstoß Vettels. Für Letzteren kassierte Vettel obendrein eine Boxenstopp-Strafe von zehn Sekunden wegen gefährlichen Fahrens - die härteste Strafe vor einer Disqualifikation. Noch dazu setzte es drei Strafpunkte auf die Superlizenz. Weil Hamilton nach der Rennunterbrechung wegen eines losen Cockpitschutzes einen Sicherheitsstopp einlegen musste, ging das direkte Duell Vettel vs. Hamilton auf der Strecke weiter - trotz der Vettel-Strafe.

Was sagte Lewis Hamilton?

Lewis Hamilton war außer sich. Nicht im Rennauto, da blieb der Brite cool. Aber in den Interviews. Dort polterte der Mercedes-Pilot kräftig in Richtung Vettel: "Das ist ein gefährliches Fahrverhalten und dafür eine 10-Sekunden-Strafe zu bekommen ... Jeder hat eindeutig gesehen, was passiert ist. Die ganzen Jungs in den anderen Serien schauen zu uns herauf, als Weltmeister gehen wir als Vorbilder voraus - und dieses Verhalten erwartet man nicht von einem mehrmaligen Champion."

Hamilton weiter: "Viele Kinder schauen uns im Fernsehen zu und sehen einen vielfachen Weltmeister, von dem man denken sollte, dass er sich besser benehmen kann. Ich hoffe nicht, dass die Kids jetzt denken, dass man so fahren sollte. Das ist keine Antwort auf irgendeine Situation oder Problem. Aber wir wissen, dass sich in schwierigen Zeiten das wahre Gesicht zeigt, und wir haben in den vergangenen Wochen viel Druck ausgeübt."

Hamilton und Vettel: Was bedeutet Baku für den gegenseitigen Respekt?, Foto: Sutton
Hamilton und Vettel: Was bedeutet Baku für den gegenseitigen Respekt?, Foto: Sutton

Was sagte Sebastian Vettel?

Sebastian Vettel schätzte die Situation völlig falsch ein, glaubte, er habe die Strafe dafür erhalten, Hamilton ins Heck gekracht zu sein. "Erklärt mir, wo ich gefährlich gefahren sein soll. Ich begreife einfach nicht, warum ich eine Zehn-Sekunden-Strafe bekommen habe. Zehn Sekunden Strafe! Ich kann kann mich nicht erinnern, dass jemand eine 10-Sekunden-Strafe bekommen hat", polterte Vettel. Hamilton hätte genauso bestraft werden müssen. "Er hat meine Bremsen getestet", wetterte Vettel über ein vermeintliches Brake-Testing Hamiltons.

Den seitlichen Rammstoß indes kommentierte Vettel indessen nicht eindeutig: "Ich habe ihm gesagt, sowas macht man nicht. Wir sind Männer hier, wir sind nicht im Kindergarten. Wir fuhren nebeneinander und hatten einen kleinen Kontakt. Aber ich bin nur daneben gefahren, um meine Hand zu heben. Ich habe ihm ja keinen Finger gezeigt. Ich wollte ihm so sagen, dass es nicht okay gewesen ist. Sprechen konnte ich ja nicht mit ihm. Ich habe die Hand gehoben und ihm gezeigt, dass ich nicht zufrieden damit war." Mit Dementi, es sei Absicht gewesen, hielt sich Vettel auffällig zurück. Hamiltons Vorbild-Vorwürfe tat Vettel damit ab, die Formel 1 sei für Erwachsene.

Was sagten die Experten?

"Das schauen sich die Stewards an, das geht nicht. Das war ein Revanche-Foul meiner Meinung nach", sagte Niki Lauda bei RTL über Vettel. Der Respekt aber werde bleiben. Wolff hielt dagegen: "Vielleicht haben wir heute die Grenzen des Respekts erlebt." Weiter konzentrierte sich Wolff aber mehr auf den Auslöser: "Wenn man sich die Daten anschaut, dann war da kein Bremsen zu sehen", kommentierte der Mercedes-Motorsportchef das vermeintliche Brake-Testing.

Helmut Marko dagegen nahm Vettel bei Sky in Schutz: "Das war hinter dem Safety Car, das war reine Provokation. Der Vettel hat sich dann revanchiert. Der andere hat ihn auflaufen lassen. Ein Rennfahrer muss ja Emotionen haben. Zwischen den WM-Anwärtern sind die Gemüter aufgeheizt. Das sind menschliche Emotionen." Auch Christian Danner zeigte zumindest etwas Verständnis für Vettel: "Das hat auf jeden Fall so ausgesehen wie ein Brake-Test und deshalb ist Vettel so ausgerastet. Brake-Testing ist definitiv zu hart ausgedrückt, das war es nicht", meinte der Experte von Motorsport-Magazin.com.

Provozieren wollen habe Hamilton aber durchaus, so Danner. Dennoch sei Vettels Revanche "hirnverbrannt" gewesen. "Das ist eine enorme Gefahr und Fehlerquelle auf dem Weg zum WM-Titel. Im Rennauto heißt es cool bleiben - wer cool bleibt, hat den Vorteil. " Für Absicht hält Danner Vettels Attacke jedoch nicht: "Es war aber keine Absicht. Vettel wollte Hamilton nicht von der Strecke rammen, da bin ich mir sicher. Er hatte beide Hände nicht am Lenkrad, als er neben Hamilton geflucht hat. Deshalb ist ihm das passiert - er wollte ihm aber nicht reinfahren. Es war keine Absicht, es war einfach dumm. Und deshalb sehe ich die Strafe für Vettel als völlig berechtigt an.

Brake-Testing oder nicht - das war lange Zeit die Frage, Foto: Formula 1/Screenshot
Brake-Testing oder nicht - das war lange Zeit die Frage, Foto: Formula 1/Screenshot

War es wirklich Brake-Testing?

Nein. Noch während des Rennens untersuchte die FIA die betreffende Szene in Kurve 15, verglich Hamiltons Herangehensweise bei allen Re-Starts - genug davon gab es in Baku ja. Das Ergebnis der Analyse: Jedes Mal verhielt sich Hamilton nahezu gleich - gleich korrekt. Die FIA ermittelte keine nennenswerten Unterschiede. Weder sei Hamilton komplett vom Gas gegangen noch habe er gebremst, so die FIA. Genau deshalb wurde der Brite auch nicht bestraft - entgegen der Vorstellungen Vettels und vieler seiner Fans. Als Führender durfte Hamilton ohnehin die Pace an der Spitze vorgeben, Hintermann Vettel musste sich an dessen Geschwindigkeit anpassen. Verboten ist es nur, vor einem Re-Start grundlos hart in die Bremse zu steigen.

Was ist Brake-Testing eigentlich?

Brake-Testing bezeichnet eines der übelsten Fouls, die man sich im Motorsport nur vorstellen kann. "Brake-Testing ist ein unmotiviertes Bremsmanöver, um den Hintermann auflaufen zu lassen", erklärt Motorsport-Magazin.com-Experte Christian Danner. Anders formuliert: Der Vordermann lässt den Hinterherfahrenden absichtlich auflaufen, indem er grundlos vom Gas geht oder sogar richtig in die Eisen steigt. Das kann aus purer Schikane, als Revanche-Foul oder aus taktischen Gründen geschehen. Letzteres etwa, um den Ziehharmonika-Effekt auszunutzen:

Tippt man am Kurvenausgang kurz auf die Bremse, muss der nachfolgende Fahrer umso härter in die Eisen steigen während der Vordermann schon wieder beschleunigt - die Gap hat sich vergrößert. Doch kommt genau das in der Formel 1, nein im Formelsport allgemein, viel seltener vor als etwa im GT- oder Kartsport. Warum? Ganz einfach: Die Boliden sind sehr filigran, das Risiko groß, sich das eigene Auto zu beschädigen.

Drohen weitere Konsequenzen?

Höchstens für Sebastian Vettel. Durch seine Strafe erhöhte sich das Strafpunkte-Konto des Ferrari-Piloten auf nun insgesamt neun Zähler. Bei Erreichen von zwölf Punkten binnen eines Jahres wird man für den kommenden GP gesperrt. Bei Vettel verfallen in Silverstone allerdings zwei Punkte aus dem Vorjahr. Heißt allerdings auch: Baut Vettel in Spielberg Mist, kassiert drei weitere Punkte, muss er beim Großbritannien GP zuschauen statt fahren.

Doch es könnte sogar noch schneller gehen. Weil Vettel mit seiner offenbar absichtlichen Ramm-Aktion dem Ansehen der Formel 1 geschadet haben könnte (s. Hamilton Vorbild-Kommentare oben) droht dem Ferrari-Piloten zusätzliches Ungemach von ganz oben. Wie die FIA Motorsport-Magazin.com inzwischen bestätigt hat, wird der Motorsportweltverband den Vorfall am Montag (3.7.), zufälligerweise Vettels 30. Geburtstag, näher analysieren. Ein richtiges Verfahren ist das noch nicht, doch noch vor dem Österreich GP soll eine Mitteilung erfolgen, ob es dazu kommt. Fällt diese schlecht aus für Vettel droht der Gang vor das Sportgericht der FIA - und damit potentiell eine Rennsperre. Immerhin ist Vettel Wiederholungstäter, war erst in der Vorsaison nach mehrfachen Entschuldigungen einem Verfahren wegen heftiger Beleidigungen von FIA-Rennleiter Charlie Whiting via Boxenfunk knapp entronnen.

Schumacher/Villeuve in Jerez 1997 erfolgte bei viel höherem Speed, Foto: Sutton
Schumacher/Villeuve in Jerez 1997 erfolgte bei viel höherem Speed, Foto: Sutton

Gibt es in der F1-Geschichte einen ähnlichen Fall?

Nicht ganz. Derartige Entgleisungen sind in der Formel 1 völlig atypisch. Einen extrem bekannten, wenn auch etwas anders gelagerten, Fall gibt es jedoch: Michael Schumachers Rammstoß gegen Jacques Villeneuve beim Saisonfinale 1997 in Jerez. Damals erfolgte der Crash allerdings im vollen Rennbetrieb während Vettel Hamilton unter Safety-Car-Bedingungen, also bei sehr geringer Geschwindigkeit in die Kiste fuhr. Verglichen mit Schumacher also eine relativ ungefährliche Aktion. Doch wäre eine Rennsperre ja auch keine Aberkennung sämtlicher WM-Punkte wie bei Schumacher ...

Und was sagen die Fans?

In einer Umfrage (Stand 29.6.2017, 14 Uhr) von Motorsport-Magazin.com ergibt sich ein extrem heterogenes Bild. Mehr als ein Viertel der Teilnehmer hält die Boxenstopp-Strafe von zehn Sekunden gegen Vettel für zu lasch, fast ein Fünftel für genau richtig dosiert. Für zu hart halten sie dagegen verschwindend geringe vier Prozent. Der Großteil der Leser (52 Prozent) allerdings hätte sich auch eine Strafe gegen Hamilton gewünscht - trotz Absolution des Mercedes-Piloten durch die FIA. Zur Einordnung sei allerdings nicht unerwähnt, dass die Umfrage bereits vor Bekanntwerden der FIA-Analyse startete.