Eigentlich könnte man das Rennen in Baku als gelaufen sehen. Lewis Hamilton fuhr im Qualifying zum Aserbaidschan GP alle in Grund und Boden. Nur Teamkollege Valtteri Bottas durfte gnädiger Weise noch an den Auspuffgasen des dreimaligen Weltmeisters riechen - der Rest der Formel-1-Welt war mehr als eine Sekunde weg. Warum sollte sich daran im Rennen großartig etwas ändern?

Die Pole Position von Hamilton war beeindruckend. Nachdem er sich drei Trainingssitzungen lang im Hintertreffen befand, schlug er im Qualifying eiskalt zu: Streckenrekord in Q1, Streckenrekord in Q2, Streckenrekord in Q3. Doch wie kann das sein? Wie kann Hamilton innerhalb weniger Stunden vom Problemkind zum Dominator werden? Und: Könnte das am Sonntag auch umgekehrt funktionieren?

  • Hamilton holt Pole mit 0,4 Sekunden Vorsprung auf Bottas
  • Räikkönen auf Startplatz drei, Vettel nur Vierter
  • Ferrari über eine Sekunde hinter Mercedes
  • Verstappen wegen Technik-Problemen nur Fünfter
  • Hamilton erstmals im Reifen-Fenster
  • Vettel wegen Rückstand nicht beunruhigt
  • Weiterhin Geheimtipp: Max Verstappen

"Wir hatten das gesamte Wochenende über Schwierigkeiten, das Auto auf einer Runde hinzubekommen", erklärt Hamilton und fügt an: "Gestern hatten wir zu kämpfen, aber wir haben über Nacht viele Veränderungen vorgenommen."

Die Probleme von Hamilton schienen jenen von Sochi und Monaco sehr ähnlich: Der Brite bekam die Reifen einfach nicht ins richtige Fenster. Doch pünktlich zum Qualifying funktionierte es. Interessant: Qualifying und Rennen starten Ortszeit Baku sehr spät. Somit ist die Sonneneinstrahlung auf den Asphalt nicht mehr so hoch.

Reifenfenster nie Ferraris Problem

Im Qualifying waren die Bedingungen etwas anders als in den Sessions zuvor: Am Freitagabend war die Asphalttemperatur relativ niedrig, Samstagmittag extrem hoch. Am frühen Samstagabend zur Qualifying-Zeit pendelte sich die Temperatur genau in der Mitte ein.

Die größte Schwierigkeit ist es immer, die Vorderreifen in das richtige Betriebsfenster zu bekommen. In Baku ganz speziell, weil Pirelli bei der ohnehin schon konservativen Reifengeneration eine zu harte Wahl traf. Dass die Zeitunterschiede so extrem groß ausfielen, ist fast ausschließlich auf die Reifen zurückzuführen. Wer aus dem Fenster rausfällt, ist komplett von der Musik. Offenbar gelang es im Qualifying nur Mercedes, genau in das Fenster zu kommen.

"Die Reifentemperaturen scheinen bei Ferrari ein echt großes Problem gewesen zu sein", meint auch Hamilton. "Das ist ungewöhnlich, weil sie normalerweise keine Probleme damit haben - das ist ein interessanter Faktor." Sebastian Vettel stimmt seinem ärgsten WM-Widersacher zu: "Es ist eine dieser Strecken, auf der du das Auto und die Reifen genau im Fenster haben muss. Wenn du das schaffst, holst du sehr viel Rundenzeit. Deshalb beunruhigt mich der Rückstand nicht zu sehr."

Viele Unbekannte: 105 Kilo Sprit, Dirty Air und Soft-Reifen

Im Rennen gibt es mehrere Fragezeichen: Wie verhalten sich die Reifen mit vollen Tanks? Die Autos sind dann 105 Kilogramm schwerer als im Qualifying, was einen enormen Unterschied macht. Dazu sind auch die Temperaturen fraglich: Wird es wieder extrem heiß? Oder gar zu kalt? Erwischt der Mercedes den Sweet Spot wieder so exakt?

Dazu kommt, dass mindestens ein Mercedes-Pilot nicht in frischer Luft fahren kann. In Dirty Air rutschen die Autos mehr, dadurch erhitzt sich die Reifenoberfläche sträker, ein Gradient zwischen dem Reifeninneren und der Lauffläche entsteht. Der Sprint zur ersten Kurve ist mit 280 Meter zwar der kürzeste der gesamten Saison, doch auf der Gegengeraden gibt es gute Chancen für Windschattenduelle.

Variablen für das Reifenfenster

  • Autos zu Rennbeginn 105kg schwerer
  • Dirty Air ändert Balance
  • Soft-Reifen sind Fragezeichen
  • Temperaturen wie im Qualifying?

Bei der Stratgie wird es hingegen wenig Variablen geben. Selbst theoretisch hat Pirelli keine lukrative Alternative zur Einstopp-Strategie gefunden. Mit den leichter werdenden Autos gibt es sogar eine negative degredation, sprich die Autos werden mit alternden Reifen wegen der Gewichtabnahme schneller.

Doch hier verbirgt sich die nächste Gefahr für Mercedes: Durch die klare Einstopp-Strategie gibt es kaum Spielraum. Nach den Supersoft kommen auf jeden Fall die Soft zum Einsatz - die Medium sind um Welten zu hart. Bekommt Mercedes auch die Soft so ins Fenster? In Sochi beispielsweise konnte Valtteri Bottas auf Ultrasoft einen Vorsprung auf Vettel herausfahren, während in der zweiten Rennhälfte Vettel auf den Supersoft deutlich schneller war. Wenn eine Mischung funktioniert, bedeutet das nicht automatisch, dass auch die andere Reifemischung passt.

Mercedes kriegt Reifen ohne richtiges Programm ins Fenster

Was der Mercedes-Konkurrenz jedoch Angst machen muss: Eigentlich fuhren die Siberpfeile ihre Reifen zwei Runden lang warm, dann gingen sie erst auf die schnelle Runde. Durch die Rot-Phase in Q3 war am Ende allerdings keine Zeit mehr für eine zweite Aufwärmrunde - und Mercedes bekam die Reifen dennoch perfekt ins Fenster.

Trotzdem zeigt sich Ferrari noch optimistisch. "Unser Auto war gestern sehr gut, im Longrun sahen wir konkurrenzfähig aus - das sollte passen", schickt Vettel als Kampfansage in Richtung Hamilton.

Und dann gibt es auch noch einen Piloten mit Außenseiter-Chancen: Max Verstappen. Der Niederländer war am Freitag tagesschnellster, schaffte da, was Mercedes im Qualifying vollbrachte: Die Reifen exakt in das richtige Fenster zu bringen. Im Qualifying verlor er Startplatz drei, weil er auf seinem letzten Versuch die Getriebesynchronisation verlor. Zu diesem Zeitpunkt lag er virtuell schon vor den beiden Ferraris.

Max Verstappen landete trotz Technik-Problemen auf Platz fünf, Foto: Sutton
Max Verstappen landete trotz Technik-Problemen auf Platz fünf, Foto: Sutton

Im Rennen sollte Verstappen zudem weniger Rückstand haben, weil Mercedes und Ferrari mit ihren Motoren nicht mehr im Qualifying-Modus fahren. Der kostet rund zwei bis drei Zehntelsekunden. Verstappen wäre eigentlich die zweite Kraft hinter den Mercedes gewesen.

Dass es für Mercedes reicht, glaubt Verstappen aber nicht: "Wir haben heute einmal mehr gesehen, wie groß der Schritt ist, den sie machen können. Ich glaube deshalb nicht, dass wir ihnen nahe kommen können. Aber wir wollen Ferrari im Rennen herausfordern."

Fazit: Vorbei ist das Rennen noch lange nicht. So gut wie Mercedes im Qualifying ins Reifenfenster kam, so schnell könnten sie Silberpfeile im Rennen wieder rausfliegen - und dann ist alles anders. Allerdings scheinen die Ingenieure die Diva tatsächlich besser zu verstehen und auch Hamilton hat seine Hausaufgaben gemacht. Aber: Die Konkurrenz kann das ominöse Fenster auch finden. Max Verstappen könnte die Spitze auch ärgern - er muss allerdings von Platz fünf erst einmal nach vorne kommen.