Beim großen Regelumbruch für die Formel-1-Saison 2017 waren neben der Aerodynamik der Boliden die Reifen das große Thema. Die Pirelli-Slicks wurden in der Vergangenheit von den Piloten scharf kritisiert. Zu viel Verschleiß, zu unbeständig und nicht zum Attackieren geeignet. Beim Saisonauftakt in Melbourne schlug für den Reifenhersteller die Stunde der Wahrheit. Doch haben sich die zahlreichen Extra-Testtage, die Pirelli im vergangenen Jahr in die Entwicklung investierte, tatsächlich bezahlt gemacht?

An der Spitze gab es im Albert Park endlich den langersehnten Kampf zwischen Mercedes und Ferrari - doch die Entscheidung fiel nicht auf der Strecke, sondern an der Box. Hamilton kam in Runde 17 zum Reifenwechsel rein, nachdem er zuvor im Funk reklamiert hatte, dass er aufgrund des Reifenverschleißes Probleme mit der Balance hatte. Der Mercedes-Pilot hatte schon nach den Testfahrten prognostiziert, dass der Reifen im Rennen ähnliche Eigenschaften wie im Vorjahr aufweisen würde.

Das Rennen in Melbourne bestätigte seine Erwartungen: "Sie sind sehr ähnlich zum Vorjahr. Die Charakteristiken unterscheiden sich nicht. Sie überhitzen, der Verschleiß ist wie früher und es gibt Graining. Es sind die gleichen Dinge, mit denen wir bisher schon immer konfrontiert wurden", so Hamilton. Rennsieger Sebastian Vettel, der sechs Runden länger auf der Strecke blieb, hatte keine derartigen Beschwerden: "Auch nachdem er [Hamilton] an der Box war, waren unsere Reifen noch gut genug."

Hamilton wurde vom Reifen an einer Flucht vor Vettel gehindert, Foto: Sutton
Hamilton wurde vom Reifen an einer Flucht vor Vettel gehindert, Foto: Sutton

Isola von Hamilton-Aussagen überrascht

Hamilton hing nach dem Reifenwechsel zunächst hinter Verstappen fest. Doch selbst als er wieder freie Fahrt hatte, versuchte er nicht, die verlorene Zeit auf Vettel aufzuholen. Er traute dem Reifen nicht über den Weg. "Ich wollte nicht pushen um die Lücke zu schließen, weil ich wusste, dass ich sowieso nicht überholen kann und mich die Reifen im Stich lassen werden", widerspricht er der Theorie, dass die neuen Reifen auch nach vielen Runden noch eine konkurrenzfähige Pace ermöglichen.

Pirelli-Motorsportchef Mario Isola gab im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com zu Protokoll, dass er diese Aussagen Hamiltons nicht erwartet hatte. "Ich habe das Teamradio gehört und es hat mich überrascht. Denn als ich mir die Rundenzeiten angeschaut habe, konnte ich nicht sehen, dass sie schon am Ende waren. Aber er ist derjenige im Auto und er kann die Situation einschätzen", so der Italiener.

Pirelli erklärt die neuen Formel 1-Reifen (10:18 Min.)

Reifen halten deutlich länger

Dass Hamiltons Erfahrungen nicht allgemeingültig sind, bewies Kimi Räikkönen. Der Finne brannte in der zweiten Rennhälfte auf 30 Runden alten Soft-Reifen die schnellste Rennrunde in den Asphalt und attestierte einen deutlichen Fortschritt gegenüber 2016: "Die Reifen haben sich in jedem Bereich verbessert. Du kannst härter pushen und sie bauen nicht so schnell ab."

Auch Fernando Alonso, der in der Vergangenheit zu den Chef-Kritikern der Reifen gehörte, konnte trotz des für ihn verführten Feierabends eine positive Entwicklung feststellen. "Es war gut. Wir konnten pushen und die Reifen hatten nicht so viel Verschleiß wie letztes Jahr", so das Feedback des McLaren-Piloten.

Die Zahlen belegen die Aussagen von Räikkönen und Alonso. Beschränkte sich der längste Stint auf Supersoft-Reifen 2016 noch auf 17 Runden, fuhr Magnussen dieses Jahr 43 Runden. Auf der Soft-Mischung fuhr vergangene Saison kein Fahrer mehr als 24 Runden, 2017 kam Vandoorne auf 46 Umläufe. Selbst auf dem weichsten Reifen, dem Ultrasoft, wurde beim diesjährigen Australien-GP von Kvyat ein Stint über 34 Runden abgespult. Im Vergleich zu 45 Boxenstopps im Vorjahr gab es dieses Jahr mit 20 außerdem weniger als halb so viele Reifenwechsel.

2016 2017
Ultrasoft
Längster Stint - 34 Runden
Schnellste Rennrunde - 1:26,711
Supersoft
Längster Stint 17 Runden 43 Runden
Schnellste Rennrunde 1:28,997 1:26,946
Soft
Längster Stint 24 Runden 46 Runden
Schnellste Rennrunde 1:30,137 1:26,538
Medium
Längster Stint 41 Runden -
Schnellste Rennrunde 1:30,557 -

Pirelli von eigenen Prognosen überrascht

Während das Boxenstopp-Fenster in der Vergangenheit relativ eng war, ließen die neuen Reifen in Melbourne mehr Spielraum für alternative Strategien. Esteban Ocon kam in Runde 15 als erster Pilot zum regulären Reifenwechsel an die Box, Daniil Kvyat war erst in Runde 34 das erste Mal bei seiner Crew. Etwas, das Ex-Pilot Jacques Villeneuve im Rahmen der Barcelona-Testfahrten gegenüber Motorsport-Magazin.com bereits vorhergesagt hatte: "Mir gefallen zu viele Boxenstopps nicht. Wenn du vier Boxenstopps hast, hast du ein Fenster von zwei Runden. Wenn du nur einen machst, hat das Fenster 20 Runden. Es ist einfach offener."

Für Isola verriet ein Blick auf die nackten Zahlen vor allem eines. "Es bedeutet, dass alle Mischungen im Rennen genutzt werden konnten. Wir hatten also keine Mischung, die im Rennen nicht zu gebrauchen war", so der Italiener, der auch vom neuen Spannungselement, das durch die größeren Boxenstopp-Fenster entstand, begeistert war: "Ich habe mich gefreut, unterschiedliche Strategien zu sehen und auch unterschiedliche Zeitpunkte für Boxenstopps."

Letztes Jahr traf Pirelli mit seiner Prognose für den Rennsonntag nur selten ins Schwarze. Oft waren die Piloten viel früher als von den Italienern vorhergesagt an der Box, weil der Reifen zu starke Verschleißerscheinungen aufwies. In Australien gab es diese Diskrepanz jedoch nicht. "Wenn wir darüber gesprochen haben, wo der Ultrasoft mehr als 25 Runden schaffen könnte, ging es mehr um Abnutzung und Strategie, aber nicht um Verschleiß. Alle Teams haben die Reifen gemäß ihrer Strategie gewechselt. Wir waren nicht weit weg von der Vorhersage", freute sich Isola.