Die Überraschung war groß, als Pascal Wehrlein am Samstagmorgen in Australien den Auftakt zur Formel-1-Saison 2017 aufgrund mangelnder Fitness absagte. Mit Antonio Giovinazzi stand für Sauber jedoch sofort ein adäquater Ersatz parat. Der 23-jährige war in seiner Rolle als Ferrari-Entwicklungspilot ohnehin in Melbourne zugegen und streifte sich für das 3. Freie Training ganz einfach den Overall der Schweizer über. Die Erwartungen waren angesichts des verpassten ersten Trainingstages gering, doch Giovinazzi überraschte mit einer starken Performance und verpasste nur knapp das Q2.

"Zuerst dachte ich, es sei ein Witz", erzählt der Italiener im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com von dem Moment, in dem sein großer Traum von der Formel 1 wahr wurde. Als er am Freitagabend in seinem Hotelzimmer war, ahnte er noch nicht, was ihn am Folgetag erwarten würde. "Ich bekam erst heute Morgen eine Textnachricht von Ferrari und meinem Manager. Sie wollten mich eigentlich gestern Abend informieren, aber da war es schon zu spät: Ich lag schon im Bett", fügt er an.

Danach hieß es für den GP2-Vizemeister von 2016: ran an die Arbeit. "Ich kam zur Strecke und habe versucht, sehr schnell mit meinen Ingenieuren und meinem Team alles durchzugehen. Es ging eigentlich alles viel zu schnell", sagt Giovinazzi. Angesichts der nicht vorhandenen Vorbereitung an diesem Rennwochenende war er dabei aber alles andere als abgeklärt. "Ich war ein bisschen nervös, da ich die Strecke nicht kannte und sofort ins 3. Freie Training und dann ins Qualifying musste", so der Überraschungs-Debütant weiter.

Giovinazzi machte Ericsson schon im ersten Qualifying ernsthaft Konkurrenz, Foto: Sutton
Giovinazzi machte Ericsson schon im ersten Qualifying ernsthaft Konkurrenz, Foto: Sutton

Giovinazzi schlägt um ein Haar Ericsson

In der letzten Trainingssession spulte Giovinazzi mit 18 Runden das größte Pensum im Feld ab, bevor es im Zeittraining ernst für ihn wurde. Nachdem er im FP3 noch Letzter war, kam er im Qualifying dann aber überraschend gut zurecht. Mit einer Rundenzeit von 1:26.419 Minuten war er lediglich 0,183 Sekunden langsamer als Teamkollege Marcus Ericsson. "Ich war nur paar Zehntel hinter Marcus, der schon viel Erfahrung in der Formel 1 hat und auch ein guter Fahrer ist. Damit bin ich wirklich glücklich", so Giovinazzi, der nach seinem ersten Run sogar vor dem Stallgefährten lag und am Sonntag vom 16. Startplatz ins Rennen gehen wird.

Tatsächlich aber stand der Ferrari-Mann sogar kurz davor, die große Sensation zu landen. Denn auf seinem letzten Run im Q1 war er schnell unterwegs, bevor er seine Runde nach einem Fehler abbrechen musste. Giovinazzi gibt sich jedoch bescheiden, ob er Ericssons Zeit tatsächlich geknackt hätte. "Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht", sagt er und führt sogleich aus, was bei seinem letzten Versuch schief lief: "Ich hatte in Turn 1 schon einen Verbremser und lag danach etwas zurück. Im Mittelsektor habe ich dann aufgeholt und im letzten Sektor dann wieder einen Fehler gemacht."

Der Traum vom Chaos-Auftakt mit WM-Punkten

Wie so oft im Albert Park kann ein mögliches Chaos beim Saisonauftakt der Königsklasse nicht ausgeschlossen werden. Dementsprechend versucht Giovinazzi sich mental auf alle Eventualitäten vorzubereiten. "Es wird ein langes Rennen und aus der Vergangenheit auf dieser Strecke weiß man, dass es etwas verrückt zugehen kann. Auch das Wetter kann alles ändern", weiß der Sauber-Pilot. Gleichzeitig lässt ihn dieser Umstand auch träumen: "Natürlich sind Punkte mein Traum, aber das wird ziemlich schwer."

Dementsprechend bleibt Giovinazzi bei seiner Zielsetzung dann doch realistisch. "Morgen wird ein guter Start das Ziel sein, und danach keine Fehler zu machen und das Rennen zu beenden. Es ist mein Job, viele Kilometer abzuspulen, da ich bisher noch nicht viel Erfahrung habe", gibt er sich rational. In der Tat wird die erste volle Renndistanz für ihn ein Novum sein, denn bei den Barcelona-Testfahrten, bei denen er in Woche eins den Boliden von Wehrlein übernahm, spulte er keine Longruns ab.

Sein Einsatz bei den Barcelona-Tests war für Giovinazzi Gold wert, Foto: Sutton
Sein Einsatz bei den Barcelona-Tests war für Giovinazzi Gold wert, Foto: Sutton

Testeinsatz eine große Hilfe

Zumindest aber legte er wegen seines Testeinsatzes schon mal sein Fitness-Programm auf die Formel 1 aus. "Ich habe mein Trainingsprogramm sehr straff gehalten und auch zwischen Barcelona und hier habe ich trainiert, auch im Simulator von Ferrari. Ich bin immer am Ball geblieben", erklärt er. Dementsprechend geben ihm die körperlichen Herausforderungen für den Moment nicht zu denken: "Ich glaube, ich bin gut vorberietet. Es wird ein langes Rennen. Danach werden wir wissen, ob ich fit bin."

Generell sah er den Einsatz für den verletzten Wehrlein bei den Wintertestfahrten als Schlüssel für seine steile Lernkurve beim ersten Einsatz an einem GP-Wochenende. "Die Tests waren wirklich sehr wichtig, denn ich kannte das Auto und sein Verhalten, das Team und die Ingenieure. Ich kannte das ganze Paket", so Giovinazzi, für den es trotzdem eine komplett neue Erfahrung war: "Es ist immer noch eine andere Strecke und es sind andere Bedingungen. Es ist ein Rennwochenende und es herrscht ein ganz anderer Druck."

Keine Chance auf Wehrleins Cockpit

Bei derart vielen Einsätzen im Sauber drängt sich die Frage auf, ob dem Ferrari-Junior unter Umständen nicht bald schon den Sprung zum Einsatzfahrer in der Königsklasse gelingen könnte. Giovinazzi rechnet sich allerdings keine Chancen auf das Wehrlein-Cockpit aus. "Pascal ist der Sauber-Fahrer und ich der dritte Fahrer von Ferrari", stellt er klar, dass er zunächst wohl nur im Ausnahmefall die Möglichkeit haben wird, am Rennwochenende im Auto zu sitzen.

Auch Wehrleins eigentlicher Chef, Toto Wolff, stellt klar, dass der Arbeitsplatz des Mercedes-Juniors nicht in Gefahr ist: "Wir haben sehr intakte Beziehung zu Sauber. Wir respektieren die Verantwortlichen und wir haben eine Situation, die sehr klar ist. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass er, wenn er fit genug ist um zu fahren, wieder ins Auto zurückkehrt."

Giovinazzi überlässt die Geschicke, wie es für ihn in der Formel 1 nach Melbourne weitergehen wird, voll und ganz seinem Management: "Das ist Ferraris Angelegenheit und ich tue einfach, was sie mir sagen", so der Italiener, der sämtliche Energien auf sein Debüt-Rennen bündelt: "Ich muss mich darauf fokussieren und daran arbeiten, noch länger hier zu bleiben."

Ferrari leitet die Geschicke hinsichtlich Giovinazzis Formel-1-Zukunft, Foto: Sutton
Ferrari leitet die Geschicke hinsichtlich Giovinazzis Formel-1-Zukunft, Foto: Sutton

Giovinazzi: Was könnte ich mir mehr wünschen?

Die Tatsache, dass er als Vizemeister der GP2 in Melbourne sein Formel-1-Debüt gibt, während sein ehemaliger Widersacher und GP2-Champion, Red-Bull-Junior Pierre Gasly, von seinen Förderern in der japanischen Super Formula geparkt wurde, weiß Giovinazzi zweifelsohne zu schätzen. "Der November war schlecht, denn ich habe die GP2 Meisterschaft im letzten Rennen verloren. Ab Dezember war dann aber wieder alles gut. Erst der Kontakt zu Ferrari, dann der Barcelona-Test für Sauber: Was könnte ich mir mehr wünschen?"

Trotz seiner sehr realen Performance im Qualifying für den Australien-GP ringt Giovinazzi immer noch um Fassung: "Ehrlich gesagt kann ich es immer noch nicht glauben, hier zu sein. Ich kam hier hin und habe gestern noch in der Ferrari-Garage gearbeitet. Und jetzt bin ich hier und spreche mit euch nach einem Qualifying, und morgen fahren wir ein Rennen. Das ist unglaublich", versucht er, das unerwartete Formel-1-Debüt zu realisieren. "Für mich wird ein Traum wahr. Seit ich ein Kind war, wollte ich in einem Formel-1-Grand-Prix fahren. Das ist wirklich fantastisch."