Der langersehnte Moment steht kurz bevor: Die Formel 1 startet in Melbourne in die Saison 2017. Das neue Reglement hat einige seiner Versprechungen bereits bei den Wintertestfahrten in Barcelona gehalten. Doch können die womöglich schnellsten Boliden in der Geschichte des Sports auch am Rennwochenende überzeugen? Was haben die neuen Regeln am Kräfteverhältnis geändert? Ist Ferrari wirklich so stark wie bei den Testfahrten, oder haben Mercedes und Red Bull nur mit dem Gegner gespielt? Kann McLaren endlich die Defekte am neuen Boliden abschütteln? Und wird Rosberg-Nachfolger Valtteri Bottas Mercedes' Star-Fahrer Lewis Hamilton schon beim ersten Auftritt die Stirn bieten? Das sind die sechs Brennpunkte für den Grand Prix von Australien.

Brennpunkt #1: Schluss mit den Bluffs

Ferrari hatte bei den Testfahrten vor dem Saisonauftakt die Nase vorne, Foto: Sutton
Ferrari hatte bei den Testfahrten vor dem Saisonauftakt die Nase vorne, Foto: Sutton

Wie schon 2016 war Ferrari im Vorlauf zum Saisonstart besonders gut, um nicht zu sagen am besten, aufgelegt. Auf vier Tagesbestzeiten und die schnellsten Runde, die nur drei Zehntel hinter dem absoluten Streckenrekord lag, folgte Kimi Räikkönens vollmundige Ankündigung: "Wenn wir wollen, können wir schneller fahren." Teamkollege Sebastian Vettel untermauerte diese Aussage, indem er auf seinen schnellsten Runden jeweils kurz vor der Start- und Ziellinie vom Gas ging.

Bei den Weltmeistern von Mercedes hielt man sich während der zwei Wochen bedeckt. Zwar erzielten die Silberpfeile ebenfalls drei Tagesbestzeiten, auf die schnellste Runde von Ferrari fehlte Valtteri Bottas jedoch über eine halbe Sekunde. Lewis Hamilton ließ den Italienern ihren Triumph: "Ich glaube, dass Ferrari blufft und sie sehr viel schneller sind, als sie es gerade zeigen." Das alles muss jedoch nicht viel zu sagen haben: 2016 unterlag Mercedes bei den Testfahrten mit 3:5 Bestzeiten und stampfte Ferrari danach gnadenlos ein.

Ein großes Fragezeichen steht hinter Red Bull. Die Mercedes-Verfolger der abgelaufenen Saison schienen mit ihrem RB13 bei den Testfahrten nicht warm zu werden. Auf der einen Seite machte die Power Unit von Renault Probleme und auf der anderen Seite klagten Max Verstappen und Daniel Ricciardo mehrfach über mangelnde Performance des Gesamtpakets: "Wir haben definitiv noch nicht die Pace von Ferrari gezeigt", stellte der Australier fest. Verloren ist jedoch noch nichts, denn Red Bull gilt als Meister der Weiterentwicklung und bringt traditionell bereits zum Auftakt ein erstes Update-Paket mit.

Brennpunkt #2: Keine Zeit für Ausreden

McLaren Honda steuert auf ein weiteres Debakel zu, Foto: Sutton
McLaren Honda steuert auf ein weiteres Debakel zu, Foto: Sutton

Während an der Spitze des Feldes die drei Top-Teams allesamt einen durchweg soliden Job ablieferten, spielten sich dahinter wahre Dramen ab. Allen Sorgenkindern voran scheiterte McLaren Honda auch beim Anlauf für die dritte gemeinsame Saison in der Hybrid-Ära wieder kläglich. Lediglich 425 Umläufe spulten Fernando Alonso und Stoffel Vandoorne mit dem MCL32 ab - das waren sage und schreibe 671 Umläufe weniger als Klassenprimus Mercedes hinlegte. Teamintern ist schon jetzt wieder gehörig Druck auf dem Kessel.

Alonso holte schon zum Rundumschlag aus und Teamdirektor Eric Boullier ging hart mit Honda ins Gericht. Mittendrin muss Newcomer Vandoorne zusehen, wie er unter diesen Voraussetzungen eine möglichst elegante Figur abgibt. Den Ernst der Lage hat der Belgier trotzdem längst erkannt: "McLaren und Honda geben zusammen alles, damit wir zumindest mit einem Update nach Melbourne kommen - denn das wird augenscheinlich auch dringend gebraucht."

Ebenfalls nicht ganz rund lief es bei Renault. Bei den Testfahrten war die Mannschaft rund um Nico Hülkenberg und Jolyon Palmer mit 596 Runden im hinteren Drittel zu finden und klagte beim R.S.17 sowohl über Motor- als auch Chassisprobleme. Eine Wiederholung des 2016er Debakels scheint sich war nicht anzubahnen, aber um das Verfolgerfeld hinter den Top-Teams aufzumischen, fehlt es noch an Pace.

Einen problembehafteten Saisonstart legte auch Toro Rosso hin. Mit dem Design des STR12 machte sich die Truppe rund um Teamchef Franz Tost viele Fans, doch auf der Rennstrecke kamen Carlos Sainz und Daniil Kvyat bisher nicht richtig in die Gänge. Wie das Schwesterteam Red Bull und das Werksteam Renault hatten auch die kleinen Bullen so ihre Probleme mit den französischen Power Units.

Brennpunkt #3: Ring frei bei den Top-Teams

Ist Bottas für Mercedes-Star Hamilton eine echte Gefahr?, Foto: Sutton
Ist Bottas für Mercedes-Star Hamilton eine echte Gefahr?, Foto: Sutton

An der Spitze des Feldes geht es nicht nur darum, wessen Ingenieure den besten Job abgeliefert haben: Bei Mercedes, Ferrari und Red Bull sind auch die Machtverhältnisse innerhalb der Teams noch nicht klar. Hamilton hat bei den Silberpfeilen mit Bottas einen neuen Teamkollegen zur Seite gestellt bekommen, der ihm seinen Status als Platzhirsch abjagen will. Bisher machte der Finne einen soliden Job, doch nur wenige glauben daran, dass er Alpha-Lewis wirklich die Stirn bieten kann. Der erste Schlagabtausch der neuen Stallgefährten wird zweifelsohne spannend.

Noch interessanter ist die Frage der Platzherrschaft bei Red Bull. Ricciardo und Verstappen waren 2016 die perfekten Teamplayer, doch auf lange Sicht hat es in einem Top-Team noch nie zwei gleichwertige Piloten gegeben. Früher oder später entscheidet sich, wer die Rolle des Teamleaders einnimmt und wer zum Wasserträger wird. Für Red Bull drängt sich ein derartiger Schlagabtausch beinahe auf: Bei Shooting Star Verstappens Aufstieg scheint noch kein Ende in Sicht, während Strahlemann Ricciardo offenbar über ebenso viel Biss wie der junge Niederländer verfügt. Das Bullen-Duell verspricht Spannung.

Bei Ferrari will Vettel sich seinen Status als Nummer eins zurückholen. Nachdem er in seiner ersten Saison für die Scuderia noch relativ deutlich die Hosen an hatte, holte Räikkönen 2016 mächtig auf. Nach Punkten lag Vettel zwar erneut vorne, doch im Qualifying schlug der Finne ihm mit 11:10 ein Schnippchen. Bei den Wintertests knüpfte Räikkönen gleich dort an und fuhr die schnellste Rundenzeit im neuen SF70H. Entpuppt sich das neue Reglement etwa als Geschenk für den Weltmeister von 2007? Zumindest ein Kleinkrieg scheint angesichts des guten Verhältnisses wischen den Teamkollegen unwahrscheinlich. Spannend wird es aber trotzdem.

Brennpunkt #4: Höher, schneller, weiter.

Highlights der Australien GPs (01:21 Min.)

Die Wintertestfahrten bestätigtenschon einmal die Prognosen der Regelmacher: Räikkönens schnellste Rundenzeit von 1:18,634 Minuten war schon 3,366 Sekunden schneller als Hamiltons Pole-Zeit beim Spanien-GP 2016. Allgemein wird erwartet, dass in Melbourne der absolute Rundenrekord von 1.23,529, Minuten fallen wird, den Sebastian Vettel 2011 im Q3 aufstellte. Der Rundenrekord im Rennen datiert auf das Jahr 2004 zurück, als Michael Schumacher im Ferrari die 5,303 km des Kurses im Albert Park in 1:24,125 Minuten umrundete.

Wenn das Wetter den Piloten keinen Strich durch die Rechnung macht, sollte der Qualifying-Rekord definitiv fällig sein. Schon 2016 war Hamilton auf seiner Pole-Runde in 1.23,837 Minuten relativ nah an Vettels Rekord dran. Mit der Generation 2017 sollten die letzten drei Zehntel ein Kinderspiel werden. Am Rennsonntag jedoch dürfte sich das Vorhaben schwieriger gestalten. Letzte Saison war Ricciardo auf seiner schnellsten Runde mit 1:28,997 Minuten stramme 4,872 Sekunden langsamer als Schumacher 12 Jahre zuvor. Um die wettzumachen, könnte ein Qualifying-Run gegen Rennende nötig sein.

Brennpunkt #5: Höher, schneller, langweilig?

Die 2017er Boliden sind schnell, doch werden sie auch aufregende Rennen liefern?, Foto: Sutton
Die 2017er Boliden sind schnell, doch werden sie auch aufregende Rennen liefern?, Foto: Sutton

Der Zuwachs bei der Performance der Boliden ist schon jetzt unumstritten. Doch die Autos mit ihrer breiten Spur und dem Plus an Anpressdruck sorgen auch für Skepsis im Fahrerlager. Einige Fahrer erwarten durch die verstärkten Luftverwirbelungen weniger Überholmanöver oder fürchten, dass die Autos für Zweikämpfe in manchen Passagen schlichtweg zu breit sind. Das Ausbremsen eines Konkurrenten soll durch die kürzer gewordenen Bremswege ebenfalls kniffliger werden.

Abgesehen von der neuen Konstruktion der Fahrzeuge sind auch die neuen Pirelli-Reifen ein großes Fragezeichen. Weniger Abbau, weniger Reifenschonen und mehr Vollgas wurde gefordert. Die Reifen sollen laut dem Hersteller langlebiger sein, doch gerade durch die großen Performance-Einbrüche wurde in der Vergangenheit viel überholt. Die Angst vor zu komplexer Aerodynamik, einem zu haltbaren Reifen und daraus resultierenden langweiligen Prozessionen geht um.

Brennpunkt #6: Feuertaufe

Rookie Lance Stroll steht in Melbourne vor seinem ersten Grand Prix, Foto: Sutton
Rookie Lance Stroll steht in Melbourne vor seinem ersten Grand Prix, Foto: Sutton

Wie beim Saisonauftakt üblich werden einige Piloten für neue Arbeitgeber ins Cockpit steigen, oder gar ganz frisch zum elitären Kreis der Grand-Prix-Piloten hinzustoßen. Williams-Neuzugang Lance Stroll ist der einzige richtige Rookie in der Saison 2017. Der 18-Jährige, der vergangenes Jahr die Formel 3 Europameisterschaft gewann, hat sich mit den Milliarden seines Vaters einen Rennsitz beim britischen Traditionsrennstall erkauft.

Bei den Testfahrten legte Stroll zunächst eine Bruchlandung hin, konnte sich danach aber wieder am eigenen Schopf etwas aus der Schusslinie ziehen. Nachdem er die Kritik abgeschüttelt hat, konzentriert er sich bei seinem ersten Auftritt ganz aufs Wesentliche: "Es ist natürlich eine neue Strecke für mich und auch ein spezieller Kurs. Es ist also nicht wie ein gewöhnliches Rennwochenende."

Der zweite Quasi-Rookie in diesem Jahr ist Stoffel Vandoorne, der am Rennsonntag in Melbourne seinen 25. Geburtstag feiert. Der Belgier gilt allerdings längst nicht mehr als Frischling im Paddock. Spätestens seit seinem Einsatz als Ersatzfahrer für den verletzten Alonso, bei dem er 2016 in Bahrain Teamkollege Jenson Button im Qualifying-Duell besiegte und am Rennsonntag gleich den ersten WM-Punkte einfuhr, gilt er im Fahrerlager als ernstzunehmender Gegner.

Neben den beiden Youngstern gab es den einen oder anderen Teamwechsel in der Königsklasse. Allen voran Nico Hülkenberg, der von Force India den langersehnten Sprung zu einem Werksteam geschafft hat und nun für Renault ins Rennen geht. Mit den Franzosen möchte er endlich seinen Podiums-Fluch brechen. Der dritte Deutsche im Bunde, Pascal Wehrlein, hat ebenfalls den Arbeitgeber gewechselt. Vom pleitegegangenen Manor-Team wechselte er zum ehemaligen Erzrivalen Sauber, wo er sich der roten Laterne entledigen und ins Mittelfeld vorstoßen will.

Hülkenberg startet erstmals für Renault, Foto: Sutton
Hülkenberg startet erstmals für Renault, Foto: Sutton

Die anderen beiden Piloten in neuen Farbensind Esteban Ocon und Kevin Magnussen. Mercedes-Junior Ocon wurde von Manor zu Force India befördert, und hat mit Podiums-Garant Sergio Perez eine echte Messlatte vor der Brust. Ex-McLaren und -Renault-Pilot Magnussen ersetzt den bei Haas in Ungnade gefallenen Esteban Gutierrez und wird sich mit Teamleader Romain Grosjean einen Schlagabtausch liefern, um sein etwas in Mitleidenschaft geratenes Image aufzupolieren.