Neue Reifen, neues Glück: In dieser Saison kehren die breiten Reifen zurück in die Formel 1. Mit den fetten Schlappen soll alles anders werden. Mehr Grip, weniger Verschleiß, weniger Boxenstopps. Nach den ersten Testfahrten in Barcelona erklärt Motorsport-Magazin.com, was sich durch die neuen Pirellis in der F1 ändern wird.

Änderung 1 - Der Verschleiß

Pirelli erklärt die neuen Formel 1-Reifen: (10:18 Min.)

Früher bauten besonders die weicheren Mischungen nach nur wenigen Runden ab, im Qualifying war oft nicht mehr als eine schnelle Runde drin. Früher war der hohe Verschleiß allerdings gewollt, um die Show vermeintlich zu verbessern. Komplettes Umdenken in der Saison 2017: Die Fahrer dürfen wieder Vollgas geben, ohne, dass der Reifen der limitierende Faktor ist. Die ersten vier Tage der Testfahrten haben gezeigt: Reifenverschleiß sollte trotz der höheren Downforce-Belastungen keine Hürde mehr darstellen.

"Der größte Vorteil an den neuen Reifen ist, dass sie konstanter sind", sagte Valtteri Bottas, der im Mercedes die meisten aller Runden zurücklegte. "Du kannst längere Stints fahren mit einer höheren Durchschnittspace." Wegen des geringeren Verschleißes wird es dieses Jahr noch mehr Rennen mit nur einem Boxenstopp geben als es schon letzte Saison der Fall war. "Die Soft-Reifen haben 80 Runden lange gehalten, es sieht also nach Ein-Stopp-Rennen aus", bestätigte Pirelli-Motorsportchef Paul Hembery.

Holzreifen sind die neuen Pirellis nicht, ein gewisser Verschleiß wird sich auch künftig auf die Performance der Autos auswirken - nur nicht mehr so extrem wie bisher in der Pirelli-Ära. "Nach 20 Runden auf Softs wären wir hier letztes Jahr 4 Sekunden langsamer gewesen", rechnete Pirelli-Manager Mario Isola vor. "Jetzt waren es zwischen 1 und 1,5 Sekunden. Das war mehr als akzeptabel." Sämtliche Fahrer bestätigten die längere Haltbarkeit sowohl auf Medium- als auch auf Soft-Mischungen.

Pirelli hätte etwas aggressiver zu Werke gehen können, wollte sich wegen der erwarteten Entwicklungsschlacht und potenziell noch höheren Kurvengeschwindigkeiten aber eine Sicherheitslücke lassen. Die ersten Tests waren ein guter Indikator, was den Verschleiß angeht. Durch noch mehr Downforce und höhere Temperaturen könnte er jedoch noch etwas ansteigen

Nico Hülkenberg zu Motorsport-Magazin.com: "Ich glaube, Pirelli hat die echt auf der sicheren Seite gebaut, damit nicht die Dinge passieren, die in der Vergangenheit passiert sind. Deswegen wäre bei den Reifen bei der Performance wahrscheinlich noch Luft nach oben, aber... Aerodynamik ist King, Junge! Ist einfach so."

Fazit der ersten F1-Testwoche in Barcelona: (05:24 Min.)

Änderung 2 - Der Grip

Der nächste große Punkt der neuen Formel 1. Die Kurven-Speeds nehmen wegen der erhöhten Aerodynamik und den breiteren Reifen zu, Kurven werden künftig mit bis zu 40 km/h mehr durchfahren. Vor allem auf schnellen Highspeed-Kursen wie Silverstone werden die Unterschiede deutlich. "Das Auto ist in Sachen Kurvenspeed unglaublich und definitiv das schnellste, das ich jemals in der Formel 1 gefahren bin", schwärmte Lewis Hamilton. "Ich bin Vollgas durch Kurven gefahren, wo ich es vorher noch nie erlebt habe."

Fest steht, dass die Reifen den Speed der neuen Autos mitgehen können - wenn es die Umstände zulassen. "Für die Soft-Reifen war es noch sehr kalt", meinte Daniel Ricciardo. "Der hat nicht den Grip geliefert, den er liefern kann." Die neuen Reifen funktionieren nicht nur in den schnellen Ecken, sondern auch in langsameren Passagen, sagte Sebastian Vettel: "Die breiten Reifen helfen überall. Das ist wie Aspirin, das hilft auch bei allem."

Nicht ganz klar ist bislang, wieviel reinen Performance-Gewinn das Auto ausmacht und wieviel die Reifen mit ihrer breiteren Kontaktfläche. Hamilton sprach von einer halben Sekunde und löste damit eine mittelgroße Debatte im Fahrerlager aus - obwohl er diese Zahl überhaupt nicht als fix erklärt hatte. "Das könnte missinterpretiert werden, könnte auch mehr sein. Es fühlt sich in den Kurven an, als ob ich überall mehr Grip hätte. Aber ich kann nicht sagen, wieviel Downforce und wieviel die Reifen ausmachen. Vielleicht ist es 50:50, vielleicht auch 70:30", sagte er.

Natürlich hängen beide Faktoren voneinander ab. Nur ein Auto mit hoher Downforce kann die Limits der Reifen ausloten. Paul Hembery war sicher, dass die eigenen Produkte mehr als eine halbe Sekunde ausmachen. "Als wir mit den Teams gearbeitet haben, hatten wir 1,5 Sekunden als Ziel", sagte er. "Aber es ist unmöglich, das genau zu testen." Williams-Performancechef Rob Smedley war ebenfalls überzeugt, dass die Reifen mehr als 0,5 Sekunden ausmachen, "aber wir brauchen mehr Einsatzgelegenheiten mit mehr unterschiedlichen Faktoren, bevor wir urteilen können, was die Reifen wirklich dazu beitragen".

Mercedes: Filmtag in Silverstone mit dem W08: (01:30 Min.)

Änderung 3 - Das Überhitzen

Die neuen Reifen sollten ab jetzt weniger überhitzen. Wurden die Reifen früher zu hart gepusht, verloren sie an Performance und waren wenig später überhaupt nicht mehr brauchbar. Jetzt sind die Reifen nicht nur breiter, sondern sollen auch über ein größeres Arbeitsfenster verfügen.

"Du hast einen größeren Bereich und bleibst in diesem, wo der Reifen am meisten Grip bietet. Das Ziel war, ein größeres Fenster zu schaffen, das hilft auch beim Überhitzen", sagte Isola. Dieses vergrößerte Fenster soll auch dem Aufwärmen der Reifen zu Gute kommen. Eine knifflige Angelegenheit, nachdem die Reifen nun über 25 Prozent mehr Auflagefläche verfügen. "Die Fahrer wollen nicht ein paar Runden rumcruisen müssen, bis der Grip kommt", erklärte Isola. "Es scheint, als hätten wir dieses Ziel erreicht."

Die Rechnung lautet allgemein: Breitere Reifen brauchen einen längeren Warmup, doch wegen der höheren Downforce geht es schneller. Manche Teams sollen während der Tests schon auf der Outlap genügend gepusht haben können, damit die Reifen sofort bereit sind für eine schnelle Runde. Isola zum Aufwärmprozess: "Gewisse Teams hatten etwas größere Probleme, da war die zweite Runde die gezeitete. Aber wir reden jetzt nicht mehr von fünf, sechs oder sieben Runden. Ich nehme an, dass es bei wärmeren Bedingungen insgesamt schneller gehen sollte."

Jolyon Palmer erwischte es bei den Tests in Barcelona, Foto: Sutton
Jolyon Palmer erwischte es bei den Tests in Barcelona, Foto: Sutton

Änderung 4 - Die Marbles

Oder auch Gummiwutzel, wie sie ein gewisser TV-Kommentator gern bezeichnet. Auf vielen Strecken ging es abseits der Ideallinie schmutzig zu, überall machten sich kleine Gummiklumpen breit. Wer darüber fuhr und die Marbles aufsammelte, bekam Probleme mit der Reifen-Performance. Nun sollte man theoretisch annehmen, dass das Mable-Problem aufgrund der breiteren Reifen noch gravierender wird. Stattdessen sollen die überarbeiteten Mischungen aber genau diesen Effekt reduzieren.

Das könnte sicherlich nicht schaden angesichts der breiteren Autos, die zum Überholen nun noch mehr Platz benötigen. Ob der gewünschte Effekt tatsächlich eintritt, wird sich aber wohl erst beim Saisonstart in Australien zeigen. "Das ist schwierig vorherzusagen, weil es dazu viele Autos auf der Strecke braucht", erklärte Pirelli-Mann Isola. "Wenn man bei Tests mit zwei oder drei Autos fährt, entstehen eh keine Marbles. Auch nach mehreren Tagen nicht. Wir müssen schauen, was passiert, wenn mehr Autos zusammen auf der Strecke fahren."

Shakedown des SF70H in Fiorano: (01:05 Min.)

Änderung 5 - Das Snap Oversteer

Spätestens seit Lance Strolls folgenschwerem Abflug am Mittwoch war der Begriff 'Snap Oversteer' an allen Ecken und Enden im Fahrerlager zu hören. Das plötzliche Übersteuern könnte den Williams-Piloten eiskalt erwischt und in die Mauer geschickt haben. Das glaubte zumindest sein Chef Rob Smedley: "Die neuen Reifen bieten mehr Grip, erreichen aber irgendwann einen Punkt, an dem die Fahrer nicht mehr happy sind. Felipe fand es ziemlich knifflig und ich habe von anderen Fahrern gehört, dass es ihnen ähnlich ging."

Das 'Snap Oversteer' - zu Deutsch: plötzliches Übersteuern - könnte eine Folge der neuen Kräfteverhältnisse sein. Die 2017er-Autos sorgen auf der Hinterachse für wesentlich mehr Abtrieb. Funktioniert der Reifen dann einmal nicht, kann das Heck urplötzlich ausbrechen. "Die Reifen machen das Fahren definitiv nicht einfacher", bestätigte Lewis Hamilton und nahm Crash-Pilot Stroll gleichzeitig in Schutz. "Sie sind spitzer. Wenn du schneller durch Kurven fährst, kommt es eher zum plötzlichen Übersteuern. Es ist schwierig, das abzufangen. Aber es gefällt mir."

Vor allem die jüngeren Fahrer könnten mit dem 'Snap Oversteer' zu Beginn ihre Probleme bekommen, während erfahrene Piloten eher reagieren können. Das glaubte Fernando Alonso jedenfalls von sich behaupten zu können: "Ich habe das Glück, viel Erfahrung zu haben und die Limits schnell zu finden. Das ist schon mein ganzes Leben so, dass ich mich schneller an die Autos anpassen kann als sonst jemand. So wird es auch dieses Jahr sein."

Fraglich allerdings, ob das plötzliche Übersteuern ein großer Faktor im weiteren Verlauf der Saison sein wird. Während der Tests experimentieren alle Teams mit den Setups der Autos. Wegen der höheren Abtriebswerte kann schneller etwas schief gehen. Ist die richtige Balance einmal gefunden, sollte sich das Übersteuern mehr in Grenzen halten. "Ich denke nicht, dass wir da zu emotional reagieren sollten", sagte auch Rob Smedley. "Dass in den ersten vier Tagen nicht alles perfekt funktioniert, ist doch normal. Wahrscheinlich passen sich Fahrer und Teams auch etwas an."