Im vergangenen Jahr stand Pirelli im Kreuzfeuer der Kritik. Jeder schlug auf euch ein, kritisierte euch. Wie fühlt es sich an, nun wieder eher im Hintergrund zu stehen?
Paul Hembery: Die Formel 1 ist auch ein Unterhaltungs-Business. Jede Saison hat ein fortlaufendes Thema. Im vergangenen Jahr hat es uns erwischt. Die einen sagen berechtigt, die anderen unberechtigt. Wenn man in diesem Sport aktiv und sichtbar dabei sein möchte, muss man das manchmal einfach akzeptieren. Man muss pragmatisch sein und sagen: So ist es eben in diesem Jahr. In dieser Saison ist die Balance wieder vernünftig. Die Rennstrategien laufen meistens auf zwei oder drei Stopps hinaus.

Es hat Pirelli also nicht geschadet. Schließlich vergessen die Menschen gerne schnell, was im letzten Jahr gewesen ist, nicht wahr?
Paul Hembery: Wenn es so weiter gegangen wäre, dann sicher schon. Nach den Reifenschäden in Silverstone hatten wir nur eine Woche, um die Probleme zu beheben. Das ist uns schnell gelungen. Es gab nicht 19 Rennen wie in Silverstone. Die Öffentlichkeit hat ebenfalls eine recht pragmatische Sichtweise. Wir mussten Änderungen vornehmen, haben das gemacht und genau das wollen die Leute sehen - Reaktionen. Wenn jedes Rennen so verlaufen wäre, hätte es ganz anders ausgesehen. Aber so war es ja nicht. Wir haben die Reifen und die Nutzung dieser verändert. So lange nichts Außergewöhnliches passiert, lässt sich sagen, dass wir wieder auf Kurs sind.

Immerhin hat es gezeigt, wie schnell und gut ihr reagieren könnt...
Paul Hembery: Absolut. Es hat gezeigt: Sobald wir wussten, was das Problem war, konnten wir es auch lösen. So ergeht es jedem hier im Fahrerlager. Das ist nicht nur auf uns begrenzt. Jedes Team hat mal Schwierigkeiten und muss diese so rasch wie möglich beheben. Red Bull ist ein gutes Beispiel dafür. Vor Saisonbeginn konnten sie in diesem Jahr keine zwei Runden am Stück fahren. In Kanada haben sie das Rennen gewonnen. Bei den Bahrain-Tests vor dem Saisonstart hätte das niemand für möglich gehalten. Das erschien unmöglich. So funktioniert die Formel 1: Wenn es ein Problem gibt, arbeitet jeder hart und methodisch daran, dieses zu lösen.

Nachdem ihr diese Situation im vergangenen Jahr selbst durchgemacht habt, könnt ihr sicher sehr gut mit den Renault-Jungs mitfühlen, oder?
Paul Hembery [lacht]: Ja, das habe ich schon öfter gehört. Ich sehe das aber nicht so. Wir konzentrieren uns auf unsere Arbeit. Über etwas anderes machen wir uns nicht so viel Gedanken. Wir müssen sicherstellen, dass wir unsere Arbeit richtig machen.

Das ist witzig. Nach den ersten Testfahrten im Winter und dem Saisonauftakt in Australien scherzten wir in unserer Redaktion darüber, dass Rémi Taffin nun der neue Paul Hembery sei...
Paul Hembery [lacht]: Von dem Scherz habe ich gehört. Ich persönlich ziehe daraus natürlich keine Befriedigung. Wir machen unsere Arbeit und alles andere liegt dann bei euch.

Hembery informiert sich bei Motorsport-Magazin.com, Foto: Sutton
Hembery informiert sich bei Motorsport-Magazin.com, Foto: Sutton

Kommen wir zur aktuellen Lage in der Formel 1. In diesem Jahr gab es abermals viel Kritik an der F1. Es scheint das alte Spiel zu sein: Wer etwas mag, sagt nichts. Wer etwas nicht mag, schreit lauthals los...
Paul Hembery: Darin spiegelt sich wohl das moderne Leben wieder. Egal in welchem Sport man involviert ist, überall wird die Kritik verstärkt. Lob wird hingegen nicht besonders hoch angesiedelt. So ist der Lauf der Welt heutzutage. Ganz besonders da heute jeder seine Meinung schnell und oftmals anonym verbreiten kann. Auch gibt es meistens keine Gelegenheit, eine andere Meinung zu äußern, um etwas zu erklären. Wir leben heute in einer ganz anderen Welt. Umso mehr ist es schade, dass der gute Rennsport, den wir in diesem Jahr schon gesehen haben, nicht gewürdigt wird. Es gab fantastisches Racing in dieser Saison.

Daniil Kvyat hat im Nassen in Silverstone einige fantastische Reaktionen gezeigt und das Auto abgefangen...
Paul Hembery [lacht]: Oh ja! Aber auch der Kampf zwischen Sebastian Vettel und Fernando Alonso am gleichen Wochenende war toll. Ich habe einige großartige Dinge in dieser Saison gesehen. Darüber sollten wir sprechen. Wir sollten auf den positiven Aspekten aufbauen, anstatt nur auf dem Negativen herumzureiten. Selbstverständlich müssen wir uns die Zukunft ansehen. Es gibt Probleme, derer wir uns als Sport annehmen müssen. Für einige Teams sind die Kosten zu hoch. Auch einige Veranstalter haben Schwierigkeiten. Insgesamt verändert sich die Fanbasis in aller Welt. Wir haben Fans in China und Indien, die keine Ahnung haben, was vor 20 Jahren in der Formel 1 passiert ist. Sie wissen nur, was im vergangenen Jahr los war. Es macht also keinen Sinn, darüber zu sprechen, was in der Vergangenheit funktioniert hat. Denn sie haben gar keine Vergangenheit in der Formel 1. Die Frage lautet: Was wollen sie sehen? Jeder von ihnen hat eine Fernbedienung mit 200 Sendern zur Auswahl. Wenn ihm etwas nicht gefällt, schaltet er nach den ersten fünf Minuten weg. Deshalb müssen wir vielleicht überdenken, wie man einen Kunden in der modernen Welt bedient. Die Menschen haben ein großes Verlangen nach Unterhaltung. Aber sie werden sich etwas nicht nur deswegen anschauen, weil sie das schon immer gemacht haben. Um ein neues Publikum zu gewinnen, müssen wir eine unwiderstehliche Show bieten.

Bei Rennen wie in Spielberg oder Silverstone waren die Tribünen voll. An anderen Strecken wie in Hockenheim waren sie fast gähnend leer. Liegt das am viel größeren Unterhaltungsangebot für die Fans?
Paul Hembery: In meinen Augen ist es sehr schwierig, ein Rennen nur alle zwei Jahre auszutragen. Man braucht eine gewisse Konstanz. Die Menschen müssen sich auf ein Rennen freuen. Die Vermarktung eines Grands Prix aufzuteilen ist sehr schwierig. Der Erfolg in Österreich lag meiner Meinung nach an dem riesigen Einsatz des Promoters, der natürlich große Unterstützung von Red Bull genoss. Aber sie haben viel für die Fans getan. Es gab Konzerte, Flugshows, Oldtimer-Ausstellungen - es war immer etwas los. Genauso in Silverstone. Sie haben dort ein Unterhaltungs-Wochenende abgehalten. Man ging mit seiner Familie hin und es wurde einem viel geboten. Klar, an Nummer 1 steht der Rennsport. Aber das Paket war dort viel größer. Denn eins steht fest: die Formel 1 ist teuer. Die Fans zahlen nicht nur für die Tickets, sie zahlen auch für die Anreise und das Hotel. Dann sind die wenigsten alleine unterwegs. Sie müssen für ihren Partner und die Kinder zahlen. So wird das rasch zu einem teuren Spaß für ein Wochenende. Gerade bei den Familien ist das nicht zu unterschätzen. Wer mit kleinen Kindern zum Rennen kommt, braucht etwas, das sie bei Laune hält. Vielleicht interessieren sie sich für Motorsport, aber zwischen den Rennen wollen sie möglicherweise etwas anderes machen. Es ist wichtig, ihnen ständig etwas zu bieten. Österreich war dafür ein gutes Beispiel. Dort hatte eine kleine Ewigkeit lang kein Rennen mehr stattgefunden. Die Strecke liegt ehrlich gesagt im Nirgendwo. Es ist also nicht so viel anders als am Nürburgring oder in Hockenheim. Nur hat Spielberg bewiesen, dass es auch anders geht.

Spielen vielleicht auch die Regeln eine Rolle dabei? Ich habe dazu schon mit Monisha Kaltenborn und Franz Tost gesprochen. Monisha bezeichnete das Hin und Her als schädlich für das Ansehen der Formel 1. Franz meinte hingegen, die F1 müsse mit der Zeit gehen und sich ständig anpassen.
Paul Hembery: Stabile Regeln sind sehr wichtig. Ganz besonders innerhalb einer Saison. Es ist ein bisschen seltsam, weil wir schon seit einigen Jahren über dieses Thema sprechen. [lacht] Es hat eine ganze Weile gedauert, bis wir an diesem Punkt angelangt sind. Fakt ist: die Öffentlichkeit interessiert sich nicht dafür. Sind wir doch mal ehrlich: es gibt eine kleine Gruppe an Fans, sicherlich die Leser eures Motorsport-Magazins, die genau wissen möchten, wie alles funktioniert. Aber alle meine Freunde in England, die sich das Rennen in einer Bar anschauen, interessieren sich überhaupt nicht für all das. Sie haben keine Ahnung und die Regeln sind ihnen auch egal. Sie wollen einfach nur guten Rennsport sehen. Selbstverständlich gibt es Fans, die die technische Seite anspricht. Aber die große Masse will nur ein spannendes Rennen sehen. Sie sollten wir nicht zu stark verwirren. Manchmal geben wir solchen Themen vielleicht zu viel Beachtung.

Es wird immer unterschiedliche Meinungen geben

Wie schafft es die Formel 1, immer in so eine Situation zu kommen?
Paul Hembery: Ganz einfach: Wir haben brillante Ingenieure, die das Reglement genau studieren und bis an die Grenzen der Interpretation gehen. So ist es in der Formel 1 schon seit einer sehr langen Zeit.

Je mehr Teams, je mehr Meinungen. Oder ist diese Erklärung zu einfach?
Paul Hembery: Wahrscheinlich ist das immer so. Egal wozu man mehrere Leute befragt, sie werden immer unterschiedlicher Meinung sein. Angefangen bei ihrem Lieblings-Eis. In einem Wettbewerbsumfeld ist das keine große Überraschung. Wir könnten auch elf Bundeliga-Mannschaften nehmen und sie nach einer Regeländerung während der Saison befragen. Ich glaube nicht, dass sie sich darauf einigen würden. Das liegt also nicht allein an der Formel 1. Vielmehr liegt es in der Natur des Menschen. Das ist unsere eigene Schuld. Möglicherweise sollte die Entscheidung erst gar nicht in den Händen der Teams liegen. Aber das ist eine andere Diskussion...

Wenn dir ein unbegrenztes Budget zur Verfügung stehen würde: wie würde dein Traum-Formel-1-Auto aussehen?
Paul Hembery: Ich mag die Simulatoren. Sie sind eine sehr wichtige Technologie für die Straßenfahrzeugproduktion. Damit erzielt man eine sehr gute Lernkurve. Ich bin jedoch kein großer Fan der Aerodynamik. Das würde alle Teams verärgern. Denn die meisten ihrer Leute arbeiten im Windkanal genau daran. Es gibt bei jedem Rennen viele kleine Veränderungen, die man gar nicht erkennen kann. Das versteht niemand. Wir sollten aber nur Dinge unternehmen, die jeder versteht. Wenn wir weniger Geld für Aerodynamik ausgeben würden, wäre das fantastisch. Vielleicht könnten wir auch etwas mehr testen. Ich mag es, wenn die Fahrer auch tatsächlich im Auto sitzen. Klar, die Simulatoren schränken die Zeit auf der Strecke ein, aber das ist wichtig, weil wir nicht wie die Autohersteller ständig auf dem Nürburgring testen können. Aber letztlich sind die Fahrer nun einmal genau dafür da und es ist schade, dass wir sie nicht öfter im Auto sehen.

Du plädierst also dafür, den Fans mehr zu bieten?
Paul Hembery: Vielleicht müssen wir den Stolz und einige historische Gefühle über Bord werfen und in der Zukunft ein paar verrückte Dinge machen. Bernie hat mal Sprinkleranlagen vorgeschlagen. Warum nicht? Wir sagen so oft: Hoffentlich regnet es im Rennen. Und warum? Weil wir dann einen zufälligen Effekt erhalten. Das lässt sich auch problemlos erzeugen. Der Computer berechnet es und es regnet für 20 Minuten bei jedem Rennen. Das würde alles durcheinanderwirbeln. Die Leute empfinden das als unecht. Möglicherweise ist es das. Aber wenn eine Regenwolke über die Strecke zieht ist es nicht viel anders. Wo liegt der Unterschied? Viele Leute schauen sich Reality-Shows an. Sie wollen echte Persönlichkeiten sehen. Wissen, wie die Fahrer wirklich sind. Die Fahrer müssen internationale Superstars werden. Sie können nicht einfach nur mit dem Helm auf dem Kopf herumlaufen. Sie müssen in Talk Shows auftreten. Der Sport muss seine Fahrer besser vermarkten, damit man sie auch überall erkennt. Lewis hat gut zwei Millionen Fans auf Facebook, aber Rihanna hat 89 Millionen Fans. Dagegen müssen wir antreten.

Dieses Interview stammt aus der Printausgabe des Motorsport-Magazins. Rund um Weihnachten veröffentlichen wir die besten, unterhaltsamsten und spannendsten Geschichten aus unserem Heft. Auf den Geschmack gekommen? Probiere das Motorsport-Magazin als Hochglanzmagazin aus! Unter folgendem Link kannst du unser Heft für 3 Ausgaben zum Sonderpreis bestellen:

Unser Magazin gibt es natürlich auch für die Mitglieder der digitalen Welt von heute. Lies es als ePaper auf deinem Computer oder hole es dir ganz modern auf dein Smartphone oder Tablet - via Apple App Store für iPhone und iPad, über den google PlayStore für dein Android-Gerät oder für kindle fire. Klicke einfach auf den nachstehenden Link oder suche nach der App mit dem Namen "Motorsport-Magazin HD".