Dass das Saisonfinale der Formel 1 2012 bereits wenige Tage danach seinen Platz in den Geschichtsbüchern der Königsklasse gefunden hat, steht außer Frage - zu spannend war das Geschehen in Sao Paulo, zu verrückt der Rennverlauf, zu nervenaufreibend die Titelschlacht zwischen Sebastian Vettel und Fernando Alonso. Karun Chanhok, der 2010 mit HRT in der F1 debütierte und letztes Jahr noch für Lotus ins Lenkrad griff, zeigte sich dementsprechend beeindruckt von der Werbung, die der Sport vergangenen Sonntag in eigener Sache betrieben hätte. "Brasilien hat in der Vergangenheit schon einige unglaubliche Rennen produziert, darunter auch enge WM-Entscheidungen - aber dieses Rennen war wirklich eines der Besten", fand der Inder.

Für ihn stand fest: "Ich denke, das hat allen wieder in den Kopf gerufen, wie gerne Bernie Ecclestone da sitzen würde, einen An- und Ausschalter in der Hand, mit dem er auf Knopfdruck Regen bestellen kann, um es unterhaltsamer zu machen..." Beim Blick auf das sportliche Geschehen meinte Chandhok, dass bis zum großen Chaos am Sonntag alles relativ geradlinig und wie erwartet abgelaufen sei. In den Trainings hätten McLaren und Red Bull in einer eigenen Liga verkehrt - sehr zum Unmut Ferraris, die bei normalen Bedingungen wieder einmal zu langsam waren. "Felipe Massa war Samstagnacht wahrscheinlich der einzige fröhliche Kerl im Maranello-Lager - er konnte wieder einmal seine 2008er-Form zeigen. Alle anderen hatten aber die Trauermine aufgesetzt."

McLaren von Anfang an in Bestform

Karun Chandhok schaute in Interlagos ganz genau hin, Foto: Sutton
Karun Chandhok schaute in Interlagos ganz genau hin, Foto: Sutton

Nach Startplatz acht für Alonso kein Wunder - durch eine Strafe gegen Pastor Maldonado rückte der Asturier für den Grand Prix allerdings noch eine Position nach vorne. Hätten sich dann auf Grund der Bedingungen nicht die Ereignisse überschlagen, wäre es für Alonso aber wohl schwierig geworden, überhaupt noch in die Nähe des Podests zu kommen. "McLaren stand in Reihe eins und es sah so aus, als seien sie in bestechender Form. Außerdem hatten sie in ihren Autos auch zwei Regenasse sitzen - eigentlich war also klar, dass sie gut aufgestellt sein würden, was auch immer passieren würde." Was dann jedoch passierte, überraschte selbst Chandhok. "Die erste Runde war einfach unglaublich."

"Die McLarens kamen gut weg, die Red Bulls schon weniger. Dafür kamen die Ferraris superschnell aus den Startlöchern." Besonders schwierig sei es gewesen, bei einsetzendem Nieselregen und dem hohen Druck einen kühlen Kopf zu bewahren. Alonso gelang dies, Vettel nur bedingt. "Was viele Leute gar nicht wissen: Die Fahrer verlassen sich beim Startprozedere auf ein Zusammenspiel mit ihrem Systemingenieur, der für sie vor dem Monitor die unterschiedlichen Griplevel auf der Aufwärmrunde bewertet und ihnen dann via Funk zuruft, wo welche Getriebeeinstellung gewählt werden muss." Auf einer Strecke mit unterschiedlichen Trockengraden sei dies natürlich gleich um ein Vielfaches schwieriger.

"Das richtig zu machen, war die wahre Herausforderung und diese haben einige eindeutig besser hingekriegt als andere", so Chandhok, der mit Bezug auf Vettel meinte: "In Kurve vier war er mitten im Mittelfeldgetümmel - vielleicht war ihm die Sicht durch Di Restas Force India versperrt und deshalb hat er Bruno Senna nicht gesehen." Wie auch für viele andere Experten, trug Vettel seiner Meinung nach bei der kontroversen Kollision mit dem Brasilianer mindestens eine Mitschuld. "Er ist auf die Innenseite und zu ihm hinüber gezogen", stellte sich der ehemalige HRT-Pilot schützend vor seinen Ex-Teamkollegen Senna. Für Vettel sei die Situation allemal brenzlig gewesen. "Ich kann den Fans versichern, dass Sebastian mit Sicherheit erst einmal tief Luft geholt hat, nachdem er das Auto wieder herumgeworfen hat und weiterfahren konnte!"

Hülkenberg zu optimistisch

Bei Ferrari konnte man nicht nach Lust & Laune mit den Reifen taktieren, Foto: Sutton
Bei Ferrari konnte man nicht nach Lust & Laune mit den Reifen taktieren, Foto: Sutton

Für einen Fahrer seien das grauenhafte Momente, besonders wenn es um so viel ginge. "Und man sieht auch: Ein paar Zentimeter hier oder dort und alles hätte vorbei sein können - da hat das Schicksal definitiv seine Rolle gespielt." Nach dem großen Chaos am Start habe das Rennen allgemein eine andere Richtung genommen und sei zu einem Taktik-Krimi geworden. Am Beispiel Ferrari erläuterte Chandhok in seiner ESPN-Kolumne, wie sehr die einzelnen Fahrer durch den außergewöhnlichen Rennverlauf in ihre jeweils spezifischen Zwänge gedrängt worden seien. "So habe ich mich zum Beispiel gewundert, warum Fernando nicht so wie Jenson Button und Nico Hülkenberg auf seinen Slicks draußen geblieben ist. Ich glaube aber, dass der Fakt, dass Ferrari die Reifen nicht so schnell auf Temperatur bringen kann wie Force India und McLaren, sie so oder so nach hinten zurückgeworfen hätte."

"Das ist ja auch das, was Massa passiert ist", fand Chandhok, der viel Lob für die lange Führungsleistung Hülkenbergs hatte. "Um mit Slicks auf einer teilweise feuchten Strecke zu fahren, braucht man eine verdammt hohe Konzentration, besonders an der Spitze des Feldes - die Jungs ganz vorne haben dabei einen tollen Job gemacht und Nico war in dieser Phase zum Teil sogar schneller als Jenson." Eine weniger glückliche Figur hätte der Deutsche dann aber bei der Kollision mit Hamilton abgegeben. "Eigentlich waren Jenson, Lewis und Nico in ihrer eigenen Klasse unterwegs, Nicos Manöver war dann aber etwas zu optimistisch. Ich denke, er war wohl ein bisschen frustriert, weil er seine Führung kurz zuvor durch einen halben Dreher verloren hatte."

Mit dem Messer zwischen den Zähnen fuhr derweil auch Sebastian Vettel, der sich nach der Anfangskollision und einem falschen Reifenwechsel seiner Red-Bull-Crew somit wieder auf den sechsten Platz nach vorne schob, der zum Titel reichen sollte. Nach Meinung Chandhoks habe die besondere Herausforderung dabei aber nicht nur in der Aufholjagd auf der Strecke bestanden. "Er hatte keinen Funk mehr. Unter normalen Umständen ist das höchstens ein bisschen irritierend. Bei wechselhaften Wetterbedingungen kann es aber den Unterschied zwischen Erfolg und Desaster ausmachen", glaubte der 28-Jährige. In den letzten Runden hätte er am Titel des Deutschen aber keine Zweifel mehr gehabt. "Vor allem, da Red Bull ja auch noch Webber vor ihm hatte und sein Zurückfallen als Joker aus dem Hut hätte zaubern können, wenn es wirklich nötig geworden wäre..."