Das Duell um die Formel-1-Weltmeisterschaft 2012 wurde beim Großen Preis von Brasilien entschieden - zumindest auf der Strecke. Sebastian Vettel beendete das Rennen auf dem sechsten Platz und sicherte sich dadurch seinen dritten Titel nacheinander. Doch am Montag nach dem Grand Prix tauchten Filmaufnahmen auf, die den TV-Zuschauern während der Live-Übertragung nicht gezeigt wurden. Hierbei handelt sich um Onboard-Aufnahmen aus Vettels Auto zu Beginn der vierten Runde. Der Red-Bull-Pilot soll in Kurve vier Toro-Rosso-Fahrer Jean-Eric Vergne unter gelben Flaggen überholt haben, was laut Reglement nicht erlaubt ist.

Hätten die Stewards Vettel für diese Aktion während des Rennens bestraft, hätte er eine Durchfahrtsstrafe antreten müssen. Doch die Rennleitung entschied sich gegen eine Bestrafung. Allerdings ist es laut FIA Reglement möglich, eine Tatsachenentscheidung auch nach der Verkündigung des offiziellen Rennergebnisses anzufechten. Konkret: Sollte Vettel im Nachhinein für die Aktion bestraft werden, würde er eine Durchfahrtsstrafe kassieren, die nachträglich in eine 20-Sekunden-Strafe umgewandelt wird. Wäre dies der Fall, würde Vettel auf den achten Platz zurückrücken und Alonso die Gesamtwertung nach dem letzten Rennen mit einem Punkt Vorsprung anführen und damit die Weltmeisterschaft gewinnen.

Motorsport-Magazin.com ging der Angelegenheit nach und fragte Ferrari unter anderem, ob das Team in Erwägung ziehe, in Berufung zu gehen. Ferraris Pressechef Luca Colajanni antwortete wortgemäß: "Dazu kann ich nur sagen, dass wir das Videomaterial auswerten." Tatsachenentscheidungen der FIA können unter Umständen angezweifelt werden - somit besteht zumindest die Möglichkeit für Ferrari, die Regelung der Rennstewards offiziell und schriftlich bei der FIA anzuzweifeln. Dies muss bis kommenden Freitag, den 30. November geschehen sein. Paragraph 179 des Sportlichen Reglements besagt: "Der Zeitraum, in dem ein Einspruch im Rückblick eingebracht werden kann, endet am 30. November des Jahres, in dem die Entscheidung getroffen wurde, sofern diese Entscheidung möglicherweise einen Einfluss auf das Ergebnis einer Meisterschaft haben kann."

Ferrari kann Einspruch einlegen

Dieser Fall ist hier gegeben, denn es geht um den Ausgang der Weltmeisterschaft 2012, die ein anderes Ergebnis hätte, wenn Vettel nachträglich eine Strafe bekäme. Zwar gibt es im Sport Tatsachenentscheidungen - hier: Vettel wurde nicht bestraft - doch diese können unter Umständen widerrufen werden. Artikel 179 des Sportlichen Reglements besagt sinngemäß, dass die Stewards oder von der FIA ausgewählte Vertreter ein Treffen mit den betroffenen Parteien vereinbaren und relevante Erklärungen anhören müssen, wenn ein neues Element entdeckt wurde, obwohl bereits eine Regelung seitens der Stewards gefunden wurde. Die Entscheidung müsse dann im Lichte der Fakten und Elemente getroffen werden, die vorgetragen wurden.

Im Klartext: Wenn Ferrari Einspruch einlegen sollte mit der Begründung, dass Vettel regelwidrig in Runde vier Vergne überholt hat, muss die FIA dieser Angelegenheit nachgehen. Auf Youtube herrschen heftige Kontroversen rund um Vettels Überholmanöver. Klar ist: In Runde vier blinken auf den elektronischen Anzeigetafeln von Kurve 1 bis Kurve 3 gelbe Signale - also Überholverbot wegen des stärker werdenden Regens. Auch auf Vettels Lenkrad leuchten gelbe LED-Lichter auf, die automatisch aktiviert werden, wenn ein Fahrer eine der gelb leuchtenden Tafeln passiert. In unten gezeigtem Video ab Minute 9:30 ist dies deutlich zu erkennen.

Allerdings gibt es noch weitere Onboard-Aufnahmen, die etwas zeigen, worauf obiges Video nicht konkret eingeht. Beim folgenden Bildschnitt sieht man auf der linken oberen Seite der Aufnahmen einen Marshall-Posten, auf dem ein Offizieller kurz vor der Johnny Walker-Brücke eine Flagge schwenkt.

Augenscheinlich ist sehr schwierig zu erkennen, welche Farbe diese Flagge hat: gelb oder grün. Nach dem Passieren des Marshall-Postens überholt Vettel Vergne, noch bevor er die Anzeigetafel mit der grünen Beleuchtung überquert; das ist der Fall, wenn er die imaginäre Linie auf Höhe der Tafel überfährt. Hier liegt die Crux dieser Angelegenheit: Wenn die Fahne des Marshalls gelb ist, darf Vettel nicht überholen. Zeigt sie jedoch grün, überholt er regelkonform. Es findet sich aktuell kein Video, auf dem die Farbe der Flagge eindeutig zu identifizieren ist. Die FIA ist - sollte Ferrari Einspruch erheben - dazu verpflichtet zu versuchen, die Farbe der Flagge anhand von Videoaufnahmen zu identifizieren.

Welche Farbe hat die Fahne?

Stellt sich heraus, dass die Fahne gelb ist, bedeutet das noch nicht automatisch, dass Vettel nachträglich mit einer 20-Sekunden-Strafe belegt wird und dadurch seinen WM-Titel verliert. Hier ist nun Fingerspitzengefühl und eine tiefe Analyse des weiteren Geschehens gefordert. Der Zwischenfall ereignete sich in Runde 4 des 71 Runden dauernden Rennens. Vettel verfügte über einen Speed, der es ihm erlaubte, zahlreiche Kontrahenten zu überholen; in Interlagos überholte er insgesamt 16 Mal. Hätte Vettel im Rennen eine Durchfahrtsstrafe kurz nach der vierten Runde kassiert, hätte er dadurch rund 20 Sekunden Zeit verloren.

In diesem Fall wäre er am Ende des Feldes gefahren. Zieht man seinen Speed in Betracht, hätte er wohl relativ schnell wieder zu den restlichen Piloten aufgeschlossen. In Runde 23 erfolgte die erste der beiden Safety-Car-Phasen im Rennen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Vettel bis auf Platz fünf vorgearbeitet. Angesichts der Unwägbarkeiten und schwierigen Witterungsbedingungen ist es unmöglich einen Rennverlauf zu rekonstruieren, in dem Vettel die Strafe tatsächlich kassiert hätte. Es ist jedoch davon auszugehen, dass ihm die Durchfahrtsstrafe im Vergleich zu einer nachträglich ausgesprochenen Strafe - und dem damit verbundenen Verlust des WM-Titels - potenziell wesentlich weniger geschadet hätte.

Die FIA reagiert derzeit nicht auf Medien-Anfragen, ob der Weltverband tätig wird und die Angelegenheit untersucht. Auch ist unklar, ob Ferrari aktiv wird oder das Rennergebnis akzeptiert. Zunächst wurde Ferrari-Sprecher Colajanni in italienischen Medien zitiert, dass das Team aus Maranello keinen Einspruch einlegen werde. Auf die Anfrage von Motorsport-Magazin.com reagierte er jedoch unterschiedlich. Im Zuge all dieser Angelegenheiten ist bislang nur eines sicher: Wenn bis kommenden Freitag keine Partei aktiv wird, behält Vettel seinen WM-Titel auf jeden Fall.