Nach dem angekündigten Ausstieg von Audi zum Saisonende 2020: Wie kann es weitergehen mit Deutschlands wichtigster Motorsport-Plattform? Überall werden mögliche Szenarien besprochen, wie die DTM einen zweiten Tod nach 1996 vermeiden kann. Viele Experten sind sich einig: Alles andere als eine Unterbrechung ab 2021 wäre ein kleines Wunder. Motorsport-Magazin.com analysiert die diskutierten Rettungs-Szenarien.

Szenario #1: BMW gegen Privatteams

BMW wird nach den Ausstiegen von Mercedes, Aston Martin (R-Motorsport) und jetzt Audi als einzig verbliebener Hersteller nicht gegen sich selbst antreten. Der einzige Ausweg für ein weiteres Engagement der Münchner besteht in einer kreativen Lösung.

Der in diesem Jahr scheidende BMW-Entwicklungsvorstand Klaus Fröhlich in der Süddeutschen: "Jetzt sind wir aber in der Situation, dass BMW in der DTM nicht alleine gegen sich selbst fahren kann. Gerhard Berger und ich müssen überlegen, wie es weitergeht. Wir haben sprichwörtlich keine Chance, jetzt schauen wir mal, ob wir sie nutzen können."

Ein Duell zwischen Werks-BMW und privaten Audi-Teams ist nahezu ausgeschlossen, hier gäbe es für die Münchner nichts Bedeutsames zu gewinnen. Theoretisch denkbar wäre der komplette Umstieg auf privat eingesetzte DTM-Autos. Aber: Wer soll das in Zeiten der Corona-Krise finanzieren?

Für den Einsatz von zwei DTM-Autos muss ein Team bis zu fünf Millionen Euro pro Saison investieren. An dieser Hürde scheiterte in der Vergangenheit schon BMW, die es 2019 nicht schafften, ein Privatteam zu stellen. Mit dem polnischen Ölkonzern Orlen und Robert Kubica gelang dieser Schritt erst für 2020. Audi fand mit dem belgischen Rennstall WRT zur Vor-Saison einen Kunden, half bei der Realisierung eines dritten Autos für 2020 aber kräftig mit, um das Feld nach dem Aston-Aus aufzustocken.

"Es gibt im GT-Sport viele professionelle Teams, die das eigenfinanziert über Partner und Sponsoren machen", sagt der zweifache DTM-Champion und Sat.1-Experte Timo Scheider zu Motorsport-Magazin.com. "Aber die DTM befindet sich auf solch einem Top-Niveau, dass man hinterfragen muss, ob das für einen Privatier Sinn machen würde. Die Finanzierung ist in der aktuellen Wirtschaftslage - unabhängig von Corona - extrem schwierig."

Timo Scheider: So einen Abschied hat die DTM nicht verdient: (19:04 Min.)

Szenario #2: DTM wird mit GT3/GTE-Autos fortgeführt

Eine Idee, mit der sich Gerhard Berger zumindest vor dem Audi-Aus nie anfreunden konnte. Die im GT-Sport übliche Balance of Performance war dem Österreicher zuwider und überhaupt sehnte er sich immer nach Rennwagen, die einem Ritt auf der Kanonenkugel glichen. Diesem Vergleich halten laut dem zweifachen Le-Mans-Sieger und ITC-Champion Manuel Reuter aber auch die aktuellen Turbo-Boliden nicht stand.

Reuter zu Motorsport-Magazin.com: "Unbändige Autos sind es in der DTM ja auch nicht. Zwar sind sie mit den neuen Turbo-Motoren schneller geworden. Aber ein unbändiges Auto wiegt 1.000 Kilo und hat 900 PS. Es wäre zudem theoretisch möglich, aus einem GT3-Auto mehr Leistung herauszuholen. Man hätte hier zumindest schon mal eine Basis, mit der man starten kann. Wer würde denn in der aktuellen Lage ein komplett neues Auto entwickeln? Vergiss es!"

Nur: Mit dem ADAC GT Masters verfügt Deutschland bereits über die weltweit stärkste nationale GT3-Serie. Welchen Mehrwert würde hier die DTM-Plattform bieten? Mit einem einfachen Kategorie-Wechsel wäre es nicht getan, ohne Audi - und möglicherweise BMW - würde auch hier die Hersteller-Zugkraft fehlen. Zudem würde die ITR einen weiteren Machtkampf mit dem ADAC riskieren, den sie aufgrund wirtschaftlicher Umstände nicht gewinnen könnte.

Der frühere Formel-1- und DTM-Fahrer Christian Danner zu Motorsport-Magazin.com: "Ich finde GT-Sport toll. Aber die Balance of Performance ist ein Desaster, weil sie Tür und Tor für Manipulation öffnet. Das ist Kundensport und wenn der professionalisiert wird, werden die Kosten durch die Decke gehen."

Ein Einsatz der aus Le Mans und der IMSA bekannten GTE-Autos wäre eine Alternative, aber ebenso weit weg. BMW setzt den M8 GTE bereits mit Werksunterstützung im enorm wichtigen US-Markt ein. Die Boliden befinden sich seit der Gründung der neuen LMDh-Prototypen-Formel auf dem absteigenden Ast - ein Einsatz in der DTM klingt nur wenig zukunftsweisend.

Außerdem: Wer soll das finanzieren? Ein GTE-Rennwagen ist in allen Belangen weitaus kostenintensiver als ein GT3-Auto. Und das Geld sitzt besonders in Zeiten von Corona alles andere als locker bei Sponsoren, die ihre Budgets ebenfalls sehr genau auf den Prüfstand stellen.

Klartext mit Christian Danner: Vettel-Zukunft & Audi-Ausstieg: (41:22 Min.)

Szenario #3: Ein japanischer Hersteller kommt in die DTM

Schon unter Hans Werner Aufrecht liefen Gespräche mit japanischen Herstellern aus dem DTM-Pendant namens Super GT. Mit den gemeinsamen Rennen in Hockenheim und Fuji zum Ende der vergangenen Saison gelang dem heutigen DTM-Boss Gerhard Berger ein Achtungserfolg mit Anlauf. Der Plan sah vor, dieses Projekt stetig auszubauen - ohne Druck, der jetzt aber akut auf DTM-Seiten herrscht. "Japaner haben eine andere Mentalität als wir. Die machen nie zwei Schritte auf einmal. Unter Druck schon gar nicht", sagte Berger Ende letzten Jahres zu Auto-Motor-Sport.

Das in Köln-Marsdorf ansässige und inzwischen als 'Toyota Gazoo Racing Europe GmbH' firmierende Toyota-Motorsportprogramm galt wegen seines deutschen Standortes stets als aussichtsreichster DTM-Kandidat, ist mit seinen Werksprogrammen in der WEC und WRC sowie dem neuen Supra-Kundenprogramm aber ausreichend beschäftigt. Die Sponsor-Millionen japanischer Reifenhersteller würden in der DTM wegfallen, hier hat Hankook jüngst seinen Vertrag bis 2023 verlängert.

Was bleibt, ist die Hoffnung auf einen Retter aus Japan. Christian Danner zu Motorsport-Magazin.com: "Es wäre eine Voll-Katastrophe, wenn die DTM gegen die Wand fahren würde. Wenn die Deutschen - BMW löblich ausgenommen - nicht mitspielen wollen, muss ich doch als Nissan, Honda oder Toyota sagen: 'Auf die Bühne springe ich sofort drauf! Wenn nur noch ein Deutscher da ist, habe ich eine Bühne, auf der ich mich richtig zeigen kann'."

BMW-Entwicklungsvorstand Klaus Fröhlich ist überzeugt, dass das neu geschaffene Class-1-Reglement Potenzial besitzt. "Ein Reglement ist nur dann ein gutes Reglement, wenn es genügend Unterstützer findet", sagte Fröhlich der Süddeutschen. Und weiter: "Wir sind in der Klärung, ob das nicht auch in den USA möglich wäre. Dann könnte man eine Art Champions League starten."

Audi-Ausstieg: Das Ende der DTM?: (23:15 Min.)

Szenario #4: Ein neuer Hersteller kommt in die DTM

An diese Möglichkeit glaubt niemand. Alte Bekannte wie Opel oder Alfa Romeo waren in den vergangenen Jahren kein Thema und werden es angesichts der Corona-Krise auch künftig nicht sein. Angesichts massiver Absatzeinbrüche in der Automobilbranche in Verbindung mit Kurzarbeit würde derzeit kein Konzernvorstand der Welt grünes Licht für den Aufbau eines teuren Motorsportprojektes geben.

Am Montag, 27. April gab Audi seinen Ausstieg aus der DTM bekannt - drei Tage später legte der Autobauer aus Ingolstadt die Zahlen für das erste Quartal 2020 vor. Die Auslieferungen gingen um 21,1 Prozent zurück. Der Gesamtmarkt sei um 23,3 Prozent rückläufig gewesen. Mit Blick auf das Gesamtjahr erwarten Audi und Co. signifikante Auswirkungen und Erlöse deutlich unter dem Vorjahresniveau.

"Die Situation ist zu klar und deutlich", sagt Timo Scheider. "Es wäre wie ein Sechser im Lotto, wenn die DTM einen neuen Hersteller realisieren würde." Zustimmung von Manuel Reuter, der bei Motorsport-Magazin.com deutlich macht: "Ich würde mich wundern, wenn die DTM in der jetzigen Zeit einen neuen Hersteller findet. Mit diesen Budgets kann ich mir das auch in Zukunft nur schwer vorstellen."

Szenario #5: Die DTM legt nach 2020 eine Pause ein

Ein Szenario, mit dem aktuell die meisten Branchenexperten rechnen. Laut Berger werde es noch einige Zeit dauern, bis eine Entscheidung fällt. Die DTM hat sich seit 1984 mehrfach als Überlebenskünstler gezeigt, doch damals saßen Enthusiasten wie der langjährige Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug am Steuer. Und es gab keine Corona-Krise, die die Wirtschaft nachhaltig beeinträchtigen wird.

Wäre alles ganz anders gekommen, wenn es der DTM gelungen wäre, die für 2022 geplanten Hybrid-Einheitssysteme und umweltfreundliches Benzin früher einzuführen? Das Vorhaben, ab 2025 komplett mit alternativen Antrieben und leistungsstarken Autos anzutreten, stieß in der Industrie auf Zustimmung. Doch der Weg dorthin ist lang, die Übergangsphase dank Corona auf ein kleines Zeitfenster geschrumpft.

Einigkeit herrscht unterdessen darüber: Ein kompletter Wegfall der DTM-Plattform wäre ein extrem schwerer Schlag für den deutschen und internationalen Automobilsport. "Da hängt so ein riesiger Rattenschwanz dran, schauen wir uns doch nur einmal den Nachwuchs an", sagt der amtierende DTM-Champion Rene Rast zu Motorsport-Magazin.com. "Was hätten die jungen Nachwuchsfahrer heute abgesehen von der Formel 1 als Ziel, wenn es die DTM nicht gäbe? Es wäre traurig, wenn das alles wegbrechen würde."