Acht Audis im Qualifying voran, vier am Rennende, doch gesprochen wurde in Brands Hatch nur über zwei: Sieger Rene Rast und den Zweitplatzierten Markenkollegen Nico Müller. Das Sonntags-Rennen der DTM auf dem britischen Traditionskurs fachte die Diskussionen nach der harten Kritik von Timo Scheider im Vorfeld und während des Wochenendes weiter an.

Die Frage schwebte nach dem zwölften Saisonrennen über allem: Hätte Müller gewinnen können oder durfte er schlichtweg nicht überholen? Obwohl der Meisterschaftszweite in der zweiten Rennhälfte schneller war als Rast, verzichtete er auf einen entscheidenden Angriff.

Nach dem Boxenstopp beider Fahrer in der elften Runde fuhren die beiden Audi-Piloten fast den gesamten zweiten Stint über direkt hintereinander. Ab der 16. bis zur 42. Runde (Zieleinlauf) betrug Müllers Rückstand auf Rast nie mehr als drei Sekunden. In den letzten drei Umläufen waren es höchstens 0,656 Sekunden Unterschied, bis Rast die Ziellinie mit 0,240 Sekunden Vorsprung überquerte.

Müller erklärte, dass er direkt nach dem Boxenstopp den größten Pace-Vorteil gehabt habe, doch ein Problem beim Reifenwechsel (das rechte Hinterrad war nicht richtig festgeschraubt) habe ihn zu viel Zeit gekostet. Im Vergleich zu Rast dauerte Müllers Boxenstopp 4,463 Sekunden länger.

Müller: "Wenn ich deutlich schneller gewesen wäre, hätte ich die Chance schon ergriffen. Aber wir haben viel Zeit beim Boxenstopp verloren. Die fünf, sechs Sekunden musste ich erst mal zufahren. Und dabei musste ich die Reifen rannehmen. Da habe ich dieses kleine Extra, was es hier braucht, verschossen. Ich konnte meinen Pace-Vorteil nie nutzen. Ein Angriff wäre eine Harakiri-Aktion gewesen. Wenn das Risiko zu hoch ist, sollte man das in der Situation vielleicht lassen."

DTM-Fahrerwertung 2019 nach 12/18 Rennen

PositionFahrerHerstellerPunkte
1Rene RastAudi206
2Nico MüllerAudi169
3Marco WittmannBMW147
4Philipp EngBMW129
5Mike RockenfellerAudi108

Müller hätte ab der 16. Runde (weniger als drei Sekunden Abstand zu Rast) mehrfach die Möglichkeit gehabt, die beiden Überholhilfen Push-To-Pass (ca. 30 PS mehr für 5 Sekunden durch Erhöhung des Kraftstoff-Durchflusses) und den DRS-Flügel einzusetzen. Von der 38. bis zur 42. Runde hätte Rast seinerseits mit diesen Systemen nicht kontern können. Dem Führenden ist der Einsatz in den letzten fünf Runden per Reglement verboten.

Marco Wittmann erklärte am Samstag nach seinem Sieg, dass diese beiden Werkzeuge einen Rundenvorteil von vier bis fünf Zehntelsekunden ausmachen, sagte aber zudem: "Ranfahren ist das eine, überholen das andere."

Müller hatte sein DRS bis zum Beginn der fünftletzten Runde ein Mal verwendet und aktivierte den Klappflügel in jeder der letzten vier Runden mindestens ein Mal. Von seinen zehn verbleibenden Push-To-Pass-Einsätzen nutzte er bis zum Zieleinlauf keinen.

Audi-Motorsportchef Dieter Gass erklärte im Anschluss bei Sat.1: "Dass wir unsere beiden Kandidaten da vorne nicht in den Fight schicken kurz vor Schluss, ist klar. Wir haben bei der Konkurrenz gesehen, dass die Motorenzuverlässigkeit nach wie vor kritisch ist. Wir haben bei Audi die Maßgabe, dass wir Push-to-Pass nur dann nutzen, wenn wir es wirklich brauchen. Gegen den eigenen Teamkollegen wäre es eine Verschwendung."

Vor Saisonbeginn sprachen Audi-Ingenieure nach Informationen von Motorsport-Magazin.com mit Blick auf die Integration des Push-to-Pass-Systems von einer extremen Zusatzbelastung für den neuen Turbo-Motor. Dessen ursprüngliche Leistung war auf 600 PS berechnet worden.

Das Push-to-Pass wurde erst spät ins Reglement aufgenommen, nachdem sich bei Tests herausgestellt hatte, dass Überholmanöver nur durch den Einsatz des DRS-Flügels - seit dieser Saison kommt ein Japan-Spec Flügel mit nur einem Blatt zum Einsatz - sehr schwierig waren.

Mit der "Konkurrenz" könnte Gass unterdessen auf BMW angespielt haben. Der Autobauer aus München hatte, wie in Brands Hatch bekannt wurde, die Verplombung dreier zusätzlicher Motoren beantragt. Als Folge wurden die drei bestplatzierten Fahrer im Rennen am Samstag nicht für die Herstellermeisterschaft gewertet, BMW ging trotz des Wittmann-Sieges komplett leer aus. Zuvor hatte auch DTM-Neueinsteiger R-Motorsport mehrfach Motoren nachträglich verplomben lassen.

Bemerkenswert: Rast erklärte nach dem Samstags-Rennen, dass er "vergessen" habe, sein Push-to-Pass einzusetzen. Das hatte der amtierende Vize-Meister schon bei seinem Aufholjagd-Sieg während des Saisonauftakts in Hockenheim bei Motorsport-Magazin.com gesagt.

DTM-Herstellerwertung 2019 nach 12/18 Rennen

PositionHerstellerPunkte
1Audi710
2BMW426
3Aston Martin44

Müller sagte, dass er konservativ gegen Rast zu Werke gegangen sei und darauf gehofft habe, dass dem Führenden die Reifen-Performance einbricht. So wie zuletzt in Assen, als Rast auf dem Weg zum Sieg der von der DTM gewollte, plötzliche Reifen-Abbau einen Strich durch die Rechnung machte. Gleichzeitig habe Müller auf den Zustand seiner eigenen Reifen-Performance geachtet.

"Auf so einer Strecke, wo das Überholen eh schwierig ist, macht es keinen Sinn, das DRS zu nutzen und noch näher ranzufahren und dann in der Dirty Air zu sein", argumentierte Müller. "Dann besteht das Risiko, dass der Reifen-Drop noch viel größer ist. Deshalb habe ich mich entschieden, konservativ zu sein und zu warten. Bei ihm trat der Drop aber nicht auf."

Nicht nur Müller verzichtete in den Schlussrunden auf den Versuch eines Überholmanövers. Im restlichen Feld der verbliebenen 16 Piloten kam es ebenfalls zu keinen Positionswechseln mehr.

In der Theorie hätten Müllers Chancen, Rast zu überholen, während des ersten Stints sogar besser gestanden. Wie der Champion von 2017 erklärte, habe er das Rennen auf einem gemischten Satz Reifen beginnen müssen, nachdem er sich im Parc-Fermé nach dem Qualifying durch einen Kieselstein einen Schaden am Reifen eingefangen hatte.

DTM-Video, Brands Hatch: Zusammenfassung des Sonntags-Rennens: (03:27 Min.)

Laut Rast waren seine Start-Reifen auf der rechten Seite fünf oder sechs Runden gebraucht, die auf der linken hätten vom Vortag viel mehr Laufleistung drauf gehabt. Rast: "Am Ende des zweiten Stints hatten wir einen guten Reifensatz, aber auf dem ersten Satz war es nicht leicht, schnell zu sein. Im ersten Stint war es nicht einfach, die Balance ins richtige Fenster zu bringen."

Dass die Audi-Kollegen Rast und Müller im Rennen keine Steine in den Weg legten, daraus machte Audi kein Geheimnis. So wurde Rast, der beim Start durchdrehende Räder hatte und die Pole Position einbüßte, wenig später von Loic Duval vorbeigeunken. Auch Müller hatte von Startplatz sechs keine Mühe, an vier Audi-Piloten vor ihm vorbeizukommen.

"Wir haben versucht, Rene und Nico so weit wie möglich vorne zu halten", sagte Gass. "Alles hat sehr gut funktioniert. Mit der Strategie haben wir uns auf Marco Wittmann fokussiert. Das hat gut funktioniert."

Was passieren kann, wenn sich Rast und Müller auf der Strecke zu nahe kommen, hat die Kollision auf dem Norisring zwei Wochenenden zuvor gezeigt. Müller kassierte eine Durchfahrtsstrafe, Rast wurde gedreht und fiel zurück. Bei der anschließenden Besprechung fielen deutliche Worte. "Eine halbe Stunde später war die Sache abgehakt", versicherte Rast in Brands Hatch.

Dass Müller die Pace gehabt hätte, das Rennen in Großbritannien zu gewinnen, davon war Thomas Biermaier, Audi Sport Team Abt Sportsline Motorsport Direktor, überzeugt. Er ärgerte sich über den verpatzten Boxenstopp der eigenen Mannschaft und glaubte, dass Müller am Ende mit dem zweiten Platz zufrieden gewesen sei.

Auf die Frage eines Sat.1-Reporters, ob der Rennausgang und der Nicht-Angriff von Müller in der Öffentlichkeit einen faden Beigeschmack hinterlasse (Timo Scheider dazu: "Wir hatten kein Free-Racing. Das ist meine Meinung."), antwortete Biermaier: "Von außen ist das sicherlich verständlich. Aber man muss auch verstehen, man mag nicht beide Favoriten im Kiesbett haben. Dass man dann nicht so das Risiko eingeht, ist auch klar. Man hat am Norisring gesehen, was passieren kann, wenn man gegeneinander fährt. Das man da sagt, 'Passt ein bisschen auf'."