"Wir haben damals vor den Rennen Cola getrunken und Currywurst gegessen." - Eine Reise in die Vergangenheit des Motorsports mit den Worten von Rennlegende Hans-Joachim 'Stritzel' Stuck. Die Frittenbuden-Zeiten aus den 70er Jahren sind längst vergangen, das weiß auch der heutige DMSB-Präsident. Stattdessen: Perfekte Fitness als Grundvoraussetzung eines jeden Profi-Rennfahrers. Totale Überwachung der Physis in jeder Minute, Triathlon als Ausgleich zur Hatz nach Rundenzeiten. Kurzum: Der Motorsportler von heute ist trainiert bis in die Haarspitzen.

Und doch gibt es einen Bereich des Körpers, der bei vielen Rennfahrern noch nicht bis ans Maximum getrimmt ist: der Kopf. Also jener Teil, in dem laut Sprichwort das Gewinnen beginnt. Dass Speed allein nicht ausreicht, um erfolgreich zu sein, ist kein Geheimnis. Die perfekte Qualifying-Runde, Überholmanöver jenseits von Gut und Böse, Unfälle, der ständige Druck der Medien; Dinge, die die eigenen Gedanken belasten können wie G-Kräfte den Körper.

Christian Vietoris im Interview mit Motorsport-Magazin.com, Foto: Speedpictures
Christian Vietoris im Interview mit Motorsport-Magazin.com, Foto: Speedpictures

Mentaltraining:Bewusstsein und Aktivierung von Energien

In einer Welt, die stets nach Perfektion strebt, greifen immer mehr Rennsportler auf so genanntes Mentaltraining zurück, um sich einen weiteren Vorteil abseits von Setuparbeiten und fahrerischem Talent zu verschaffen. Trotz aller Professionalisierung steckt dieser Ansatz im Motorsport allerdings noch in den Kinderschuhen. "Oftmals ist Menschen überhaupt nicht bewusst, was Mentaltraining eigentlich bedeutet. Sie denken, sie müssten dabei über heiße Kohlen laufen oder in die Hände klatschen - das ist Blödsinn. Mentaltraining hat vielmehr etwas mit dem Bewusstsein und der Aktivierung von Energien zu tun", erklärt Mentalcoach Julia David im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com.

Mentaltraining, das steht für die Wahrnehmung der eigenen Stärken und Schwächen, Konzentration, Fokus, Stärkung des Selbstbewusstseins. Einige Rennfahrer haben inzwischen die Vorzüge des mentalen Trainings für sich erkannt, doch nur wenige sprechen darüber. Oftmals aus Furcht, für schwach gehalten zu werden und um nicht den Anschein zu erwecken, mit dem Druck nicht umgehen zu können. Im Golfsport gehört Mentaltraining längst zum guten Ton, im Fahrerlager ist es nach wie vor ein Tabuthema.

"Es wird in der Tat immer wieder totgeschwiegen", bestätigt Julia David. "Das finde ich sehr skurril, denn das sind Menschen, die bei jedem Rennen ihr Leben riskieren. Aber in der Boxengasse trauen sie sich nicht zuzugeben, dass sie Mentaltraining machen. Ich sage: Mentaltraining ist ein Zeichen von Stärke, Mut und Klarheit." Zu den wenigen mutigen Rennfahrern, die offen über das Thema sprechen, gehört Christian Vietoris. Der DTM-Pilot von Mercedes-Benz schwört seit seiner Zeit in der GP2-Serie auf Mentaltrainer Enzo Mucci. Wo andere Fahrer in der Startaufstellung den Physiotherapeuten an ihrer Seite haben wollen, vertraut Vietoris auf Coach Mucci.

Christian Vietoris erlebte eine schwierige Saison 2015, Foto: DTM
Christian Vietoris erlebte eine schwierige Saison 2015, Foto: DTM

Vietoris: fünf bis zehn Prozent mehr Potenzial dank Mentaltraining

"Ich habe lieber Enzo an meiner Seite", sagt Vietoris im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. "Ich komme mit ihm sehr gut klar, deshalb ist er auch bei jedem Rennen dabei." Vietoris ist überzeugt, dass er dank des Mentaltrainings fünf bis zehn Prozent mehr Potenzial aus sich herauskitzeln kann. Eine Hausnummer in einem Sport, bei dem Hundertstelsekunden über Sieg oder Niederlage entscheiden können. "Man lernt sich dadurch selbst am besten kennen", sagt der 26-Jährige. "Man weiß, in welcher Situation man die beste Leitung zeigen kann. Die negativen Aspekte muss man ausblenden. Wenn das Training am Samstagmorgen etwa nicht so toll läuft, darf man nicht die Nerven verlieren."

Es wird noch einige Zeit brauchen, bis das Thema Mentaltraining in der Männerdomäne Motorsport vollends akzeptiert und nicht mehr als Eingeständnis von Schwäche angesehen wird. Auch hier gilt: reine Kopfsache. "Ich war nach meinen ersten Erfahrungen vor vielen Jahrzehnten kein Fan des Mentaltrainings. Aber selbst ich bin ja noch lernfähig", sagt etwa 'Strietzel' Stuck, der hier auf seine alten Rennfahrer-Tage eine Vorbildrolle einnimmt - und sich jetzt guten Gewissens eine Currywurst gönnen darf. "Man muss die Dinge der Zeit umsetzen und das Beste daraus machen. Ich bin sehr gespannt, was die nächsten Jahre bringen, und wo in diesem Bereich die Reise hingeht."

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